Böse Frauen

Peggy in Hohenwulsch

Als Peggy den rot lackierten Schienenbus betrat, hatte sie ein perfektes Deja-Vu. Vor zwanzig Jahren, vor fünzig Jahren und vor einhundert Jahren war sie dieselbe Strecke gefahren. Perfekt flossen drei Erinnerungsströme verborgener Quellen ineinander. Peggy unterlegte sie mit dem roten Lack der Waggons: da wurde aus Gerüttel, aus klebrigen Plaste-Bezügen, aus dem tadelnden Blick des Fahrzeugführers dieser jetzige Moment. Dieser Atemzug, entschied sie, sollte der Beginn von etwas sein. Ein solcher Beginn im Sinne von Aufbruch konnte nur auf Nebenstrecken erfolgen. So fand sie sich auf der Kursbuchstrecke 305, Stendal – Uelzen ein. Alle bisherigen Reisen, alle gedachten, gemachten, aufgehobenen und aufgeschobenen waren nicht dazu angetan, sie persönlich weiter zu bringen. Mag sein, dasz Jana doch recht hatte mit der angeblichen Indianerweisheit, dasz Seele und Körper getrennt reisen und die quecksilbrige Seele, die fluchtbereit-flüchtige, ausgerechnet die, sich keinem modernen Verkehrsmittel anzupassen vermag. Die Körper wurden katapultiert in Kästen, Kapseln, Kabinen. Irgendwo dahinter die Seele, sich Schnürschuhe anlegend, die Reise-Richtung wohl nur ahnend.
Peggy sah ein Pferd, es trug Trense und Sattel, sie sah, dasz es naszgeschwitzt war, der Sattel war leer, es trottete, heftig mit dem Kopf schlagend, die Bahnhofstrasze entlang. Das Pferd wollte zweifellos ihre Gedanken illustrieren, war geschickt worden, hatte sich deshalb seines Reiters entledigt. Gesehen hatte Peggy es damals, Jahrzehnte her, vielleicht waren es zehn oder mehr. Das würde den Weg des Reittiers zur Eisenbahn erklären.

Noch immer hielt der Zug.

Die Bahnhofsuhr ruhte auf der 12 aus. Rotflackernde Buchstaben behaupteten einen Streik der Eisenbahner. Der bereits röchelnde und rüttelnde Triebwagen legte dagegen mächtigen Einspruch ein. Und jetzt stieg eine ganze Gesellschaft ein, überwiegend Männer, freundliches Grüszen der bereits Sitzenden. Cargohosen, oliv und beige, Kameras, tatsächlich Kameras und Aktentaschen, denen der Status von Requisiten zukam. Herzeigen, Vorzeigen, Bewundern. Eine gewisse feierliche Stille, als der Triebwagen mit einem tiefen Seufzer losruckelte. Peggy gegenüber sasz ein Mann unbestimmbaren Alters, seine Bewegungen beim Ablichten des gesamten Innenraums unter besonderer Berücksichtigung des Führerstands waren flink und behende. Doch als er Platz nahm, versuchte er sich an einem Lächeln, nestelte an seiner Anglerweste, strich sich eine fettige Strähne aus dem Gesicht, um den Blick dann in die herbstliche Landschaft zu heften. Munter sprang ein Eisenbahn-Fachgespräch von Mann zu Mann, Peggy war es anfangs angenehm. Niemand erwartete einen Beitrag ihrerseits. An einigen Westen oder knittrigen Sakkos waren Abzeichen, viel DR und immer wieder ein Rad im Halbprofil, an seiner Leiste als Eisenbahnrad zu erkennen, das von zwei mächtigen Schwingen gehalten wurde. Bei Peggy war eine seltene Gefühlskrankheit diagnostiziert worden. Eigentlich war es keine Krankheit, es war eine Besonderheit. Es konnte eigentlich auch gar keine Krankheit sein und zwar aus dem einfachen Grunde, weil es keine Heilungsangebote gab. Für Peggy war jetzt diese Reise eine gröszere Hoffnung.
Es ging ihr um eine bessere Anbindung zwischen ihrem nicht immer funktionierenden Körper und ihrem Denkapparat. Sie schienen auseinander-zustreben, was Peggy, der Besitzerin beider Systeme, Unbehagen bereitete. Wenn sie Lochkäse asz, legte sie die Scheiben paszgenau übereinander.

Wenn niemand sie beobachtete, sortierte sie den Hausmüll ihres Mehrfamilienhauses nach.

Die Fahrt in die Vergangenheit verband die fremden Zeiten und ihre eigenen Systeme besser miteinander.Papierfahrpläne wurden ausgeteilt. Sie enthielten Spalten-Gewitter, Punkt-Ebenen, die von Zahlen-Säulen gehalten wurden. Einige der Reisenden wetteiferten im Wissen um den Ursprung dieser grafischen Literatur. Peggy sah deutlich die Paralellen. Die Landschaft schlich vorbei, wobei das Rütteln und Schütteln des zweiachsigen Schienenbusses für eine angenehme Unschärfe sorgte. Ich sehe was, was Du nicht siehst, Peggy erhob sich und ihre Stimme: laszt uns doch was spielen! Das haben wir früher immer auf der Reise gemacht: Ich sehe was, was Du nicht siehst! Sie war sich nicht sicher, ob sie gesprochen oder gedacht hatte. Sie wiederholte ihr Spiel-Angebot und konkretisierte es: und das ist Rot. Mag sein, dasz es zu schwierig war, etwas Rotes zu finden. Jedenfalls setzte die Reisegesellschaft ihr Gespräch fort, munter sprang es wieder hin und her zwischen „Siebensiebenzwo“ und „Ferkeltaxi“. Jetzt waren die roten Inletts der Bettdecken nicht mehr zu sehen, eine alte Frau muszte sie aus dem Fenster gehängt haben, das war vor zwanzig, vor dreiszig, vor siebzig Jahren. Rot-rot-rot ist alles, was ich trage. Immerhin ergänzte einer der alterslosen Männer das Lied, wandte sich aber sofort wieder ab. Einer, der aussah wie sein Bruder, pflanzte sich vor die Fahrerkabine, einige Blätter knetend: ich werde Euch jetzt etwas über die Geschichte der Bahnhöfe auf der Strecke vortragen. Zunächst die Übersicht und allgemeine Hinweise. Dann stelle ich Euch unsern ehrenamtlichen Fahrzeugführer vor. Fragen bitte erst am Schlusz. Den Haltepunkt Steinfeld haben wir eben passiert. Es folgen: Kläden, Hohenwulsch, Meßdorf, Brunau-Packebusch, Fleetmark, Rademin, Pretzier, Salzwedel und dann geht es wieder zurück. In Hohenwulsch, nur hier ist die Strecke ja bekanntlich zweigleisig, werden einige Freunde unseres Partnervereins aus Baden zusteigen. Der Halt wird genau sieben Minuten dauern. Wie ihr wiszt, besteht keine Möglichkeit auszusteigen. Wir fahren die Kursbuchstrecke 305 jetzt dreimal ab, der gegenwärtige Eisenbahnerstreik ist für uns ein günstiges Omen. Unser Vereinsfreund Hans-Günther wollte noch etwas zu dieser Baureihe, gefertigt in Bautzen, nicht wahr? sagen.

Peggy wurde von niemandem erwartet.

Peggy dachte an Janas Rat, jeden Augenblick und jede unerwartete Wendung anzunehmen als ein Angebot des Universums, zu wachsen und zu reifen. Hohenwulsch also. Bei Schiffs-Reisen über den Äquator oder über den Polarkreis hatte sie absonderliche Rituale erlebt, Wasser und Ekelerregendes wurde verspritzt, Gestelztes in Verkleidungen gesprochen, Urkunden verteilt. Sieben Minuten. Da paszte ein ganzes klares Ritual hinein. Die Stationen waren imgrunde Knopflöcher, der rote Waggon eine Nähmaschine, mechanisch mit Tretantrieb, die Altmark mit ihren mal fruchtbaren, mal unfruchtbaren Böden wurde immer wieder abgesteppt, besser war die Mehrfachnaht. Woher kannte sie nur diesen Eisenbahnfreund? War sie wieder auf ein Serienprodukt gestoszen, unter 20 Menschen gibt es, so ihre eigene Schätzung, einen, der in jedem gröszeren Ort mit mehr oder weniger groszen Abwandlungen existiert. Ein Typ eben, den es in beiden Geschlechtern gibt. Mied er ihren Blick aus Scheu oder aus Betroffenheit?
Die Bahnhöfe an der Strecke hatten ein noch übleres Schicksal erlitten als die Züge, die einst an ihnen begrüszt wurden. Der Vortragende sprach gefaszt und sachlich. Das Wort „ausrangiert“ benutzte er nicht, es war Peggy ur-vertraut, lange bevor sie die eigentliche Bedeutung kannte.
„Einrangiert“ warf sie ein – dies ist doch ein „einrangierter Zug“, in dem wir sitzen.
„Schienenfahrzeug“ und „Triebfahrzeug“ wurde ihr entgegnet.

In Hohenwulsch nutzte Peggy das allgemeine Durcheinander, um kurz auszusteigen. Die meisten Eisenbahnfreunde von drinnen stürmten nach drauszen, um das Fahrzeug zu knipsen, wobei sie heftig mit den Armen wedelten, um ihre Kollegen aus der Ansicht zu schieben. Die einsteigenden Eisenbahnfreunde widmeten sich den Innen-Aufnahmen. Der Fahrzeugführer versuchte, mit seinem Signal eine kl. Melodie, eher einen Rhythmus nachzubilden. Peggy nahm Masz und folgte einem der Männer hinter den zugemauerten Bahnhof. Er hatte ihre Statur, war lediglich voluminöser. Die Goldtresse an der Uniformmütze glänzte in der Nachmittagssonne.
Wieder dieses Deja-Vu: sie entnahm der abgeschabten abgestellten Aktentasche eine antike Thermosflasche und schlug sie dem auf das Wasserlassen konzentrierten Mann so gegen die Schläfe, dasz er sofort zusammensackte. Nun rasch die recht sauber aussehende Oberbekleidung, an sich genommen und angezogen. Die Mütze paszte. Sie tauschte Aktentasche gegen Handtasche, vorher malte sie sich mit dem Kajalstift noch ein paar Bartstoppeln auf. Es war noch Zeit, ihn ordentlich hinzulegen und mit originalen historischen Kursbuchblättern zuzudecken. An den Namen würde sie sich gut gewöhnen, Ludwig Begemann.

„Peggy“ hatte ihr eigentlich nie gepaszt.

Auch sie machte noch einen Triebwagen-Schnappschusz mit Fahrzeugführer und stieg mit den letzten Eisenbahnfreunden wieder ein. Vor Pretzien war vor dem Lokschuppen mit Drehscheibe eine Langsamfahrstelle. Dort würde sie völlig unbemerkt auf der anderen Seite abspringen. Falls Füchse und in der Gegend herumziehende Wölfe etwas von dem Toten übrig lieszen, würde die Identifizierung sehr lange dauern – Zeit genug, sich in seinem Leben auszubreiten. Sie schätzte, dasz ihr neues Ich in weitgehender Sozialabstinenz lebte. Sie würde sein Leben weiter leben. Sie war gespannt auf die Vorteile, die sich ihr in ihrem neuen Leben bieten würden.