Heimat

Eine kleine Geschichte des Antisemitismus in Motiven

Das SCHWEIN – Saujude und Judensau

Nein, hier geht es nicht um das schlaue Schwein, um das putzige, um das rosane also fleischfarbenen, es geht nicht um das Glücksschweinchen und es geht nicht um das Tier an sich. Natürlich nicht.
„Judensau“ und „Saujude“ und „Judenschwein“ lauten die immer-währenden, nie aus der Mode kommenden Diffamierungen. Zu lesen auf Friedhöfen, Haustüren, zu hören keineswegs nur auf Schulhöfen oder digital. (Wobei die beiden letzteren Invektiven die historisch jüngeren sind.) Im Kot wühlen, grunzen und stinken – das ist der Job der „Judensau“. Aber es geht noch widerwärtiger. Wie zu zeigen, besser: zu imaginieren ist.

Die Judensau ist ein Topos in der Kunstgeschichte – und eins der wirkmächtigsten antisemitischen Klischees. Über 30 Exemplare hängen noch in und an deutschen Kirchenbauten. Vom Anfang des 13. bis Anfang des 16. Jahrhunderts wurden sie modelliert und in die Kirchen incorporiert. Die älteste noch erhaltene Darstellung dieser Art ist auf einem Säulenkapitell im Kreuzgang des Doms zu Brandenburg zu bewundern – das „klassische“ Motiv: Juden, die wie Ferkel an den Zitzen einer Sau saugen. Erst auf den zweiten Blick wurde mir klar: die Sau selbst hat Menschenantlitz und ist ausweislich des spitzen Hutes als Jude erkennbar. Und aus dem Anus werden die Exkremente aufgefangen – ich vermute, die Losung ist mit der Tora gleichzusetzen.

Was für eine bizarre Obsession der Christen. Da gibt es das jüdische (und muslimische) Verbot, Schweinefleisch zu essen. Und die Juden-Hasser machen daraus eine perverse Vorliebe für das Schwein – pervers, wie in den Darstellungen der Mensch zum Schwein wird. Und pervers, weil es zu Sexualkontakten zwischen Mensch-und-Schwein kommt. (Immer wieder taucht in dem Zusammenhang die Frage auf: warum das Schwein? Warum gehören Schweine nicht auf jüdische und muslimische Speisezettel? Nun gibt es ja viele Tiere, die wir kulturell bedingt nicht essen. Schlangen z.B. Katzen auch nicht. Die für mich einleuchtendste Antwort auf die Frage ist die der Nahrungskonkurrenz. Schweine, wilde, stellten damals gefährliche Nahrungskonkurrenten dar – sie verwüsteten Gärten und Felder, weil sie die gleichen Früchte und Körner schätzten.) Die Kirchenlehrer der Spätantike zogen die Juden in den Dreck: so waren sie für Augustinus „aufgerührter Schmutz“. Chrysostomus verglich Juden mit „Schweinen und Böcken“ – töten solle man sie indes nicht, am Ende der Welt werden sie sich dem Christentum unterwerfen.

Ein populäres Motiv

Für die immense Popularität des Motivs sorgte im 16. Jahrhundert das neue Medium des Buchdrucks. Im 20. Jahrhundert reaktivierten die Nazis die Schweinischen Herabsetzungen.Eine der bekanntesten „Judensauen“ hängt an der Wittenberger Stadtkirche.
Die Plastik aus dem frühen 14. Jahrhundert an der Südseite des Kirchenschiffs zeigt Sau-säugende Juden und einen Juden, der der Sau in den Anus blickt.
Im vergangenen Jahr (2020) muszte sich das Oberlandesgericht Naumburg mit einer Klage betr. Beleidigung und Beseitigung der Plastik befassen. Dasz die Klage abgewiesen wurde, zog extrem gegensätzliche Reaktionen nach sich. Von: ein Skandal, eine stetige Beleidigung und Befeuerung von Hetze und Hasz. Bis: Die Kirche – in beiden Sinnen: baulich wie institutionell – musz diese Schande als Teil ihrer Geschichte tragen, eine Demontage wäre verlogen. Und würde auch Luthers Beitrag zum Antisemitismus als deutscher Leitkultur verleugnen.

Wer von Luther spricht, darf vom Antisemitismus nicht schweigen. Eine Abbildung einer „Judensau“ ziert seine 1543 erschienene schlimmste Hetzschrift. Schrift und Kirchen-Plastik tragen den selben Titel – schon der ist eine Beleidigung. Es ist der rabbinische Name für den unaussprechlichen Namen Gottes: Schem Hamphoras.
Im gleichen Jahr war Luthers bekanntestes antisemitisches Pampplet „Von den Juden und ihren Lügen“ erschienen. Ein hemmungsloser und geradezu rauschhafter Angriff auf das Judentum und alles Jüdische, der die Verbrennung der Synagogen, die Zerstörung der Häuser der Juden, ihre völlige Beraubung und anschlieszende Vertreibung postuliert.
Luthers Traktat „Schemhamphoras“ fand grosze Verbreitung und groszen Widerhall – in dem erklärt Luther, dasz der Rabbiner direkt in den Talmud hinein sieht, der Talmud also nichts anderes ist als der verdaute und durch die Därme ausgeschiedene Mageninhalt der Schweine ist, höchste Potenz von Dreck mithin.
Seit dem 19. Jahrhundert trägt die steinere Judensau an der Kirche den Titel von Luthers Schrift, so stützen sie einander, sind Teil einer starken protestantischen Tradition. Eine Besonderheit ist die „Frankfurter Judensau“.

Die (wirklich sehr krasse) Darstellung wurde wahrscheinlich Anfang des 16. Jahrhunderts im Auftrag des Rates der Stadt Frankfurt an einem Brückenturm angebracht. Erneuert bis ins 18. Jahrhundert. Kopiert habe ich für Sie ein Glasgemälde ähnlicher Aussage aus dem Jahre 1475. Ein Bürgerhaus präsentierte es stolz als Fensterbestandteil. (Heute zu sehen im Historischen Museum der Stadt) Zu sehen sind mit gelben Ringen markierte „Juden“, flankiert vom Teufel (auch jüdisch) und einer Marien-artigen weiblichen Gestalt, ebenfalls gelb markiert. Drei Rabbiner widmen sich einer Wildsau-ähnlichen Sau: Einer reitet verkehrt herum auf dem Schwein und hält den Schweineschwanz hoch, damit ein hinter dem Tier knieender Jude das Arschloch lecken kann. Ein Dritter liegt darunter und saugt an den Zitzen. In einem Bildfeld darüber ein gefesselter aus vielen Wunden blutender Knabe. Die Inschrift lautet: „Im Jahre 1474 wurde das zweieinhalbjährige Kindlein Simon von Trient von Juden umgebracht“. Eine andere antisemitische Infamie: Die Ritualmord-Legende.

Doch zurück zur Obsession „Juden und Schweine“.
In den 1990er Jahren kam es zu mehreren antisemitischen Vorfällen mit Teilen von Schweinen – so warfen Neonazis am 20. April 1992 Schweineköpfe in die Erfurter Synagoge.Als ich über die lange Antisemitismus-Geschichte recherchierte, war ich über die Länge der Geschichte entsetzt. (Und nicht nur darüber.)
Sie beginnt nicht im sog. christlichen Mittelalter und sie beginnt auch nicht im Römischen Reich, sondern schon im hellenistischen Ägypten.

Bereits in der Antike …

Was unser Motiv der nicht-jüdischen Schweine-Obsession angeht, finden wir es bereits bei König Antiochos IV. Antiochos IV gilt als der mächtigste Seleukiden-König (Nachfolgestaat Alexanders des Groszen, umfaszte den ganzen vorderen Orient). Er starb 164 vor unserer Zeitrechnung. Der König verbot die Beschneidung und liesz Mütter, die ihre Söhne beschneiden lieszen anprangern und mit ihren Kindern die Stadtmauer herunterstürzen.
Auch die Feier des Sabbats und anderer Feiertage verbot er. Das war Teil seines „Hellenisierungprogramms“.
Und jetzt kommt es: er befahl den Juden, in ihren Tempeln auch Schweine zu opfern.Die Juden waren damals keine Fremden, sie lebten nicht an Rändern der Reiche, hier: der Diadochenstaaten. In der perfiden Judengesetzgebung sieht der Judaist Peter Schäfer den Beginn des staatlichen Antisemitismus.Ich lasse diesen König sich verwundert die Augen reiben: Diese Leute glauben an nur EINEN Gott. Der soll auch noch unsichtbar sein? Der äuszert sich durch 10 Gebote?
Da sollen sie ein fettes Schwein auf ihren Altar legen – das quiekt und blutet und wird ihnen ihren Irrglauben und ihr falsches Da-Sein bewuszt machen.Aber ich wollte ja nicht versuchen, Antisemitismus zu erklären. Nur ein paar Motive will ich in Erinnerung und zu Bewusztsein bringen.

Die „antisemitische Konsensgesellschaft“

Noch mit einer anderen antijudaistischen und antisemitischen Traditionslinie verbindet sich die Schweine-Infamie: sehr en vogue war im dt. Kaiserreich, in der „antisemitischen Konsensgesellschaft“, wie Peter Schäfer es prägnant ausdrückt, die Gleichsetzung von Juden mit schnöder Materie und widerlichem Materialismus und „Deutschen“ mit lichtem Geist und germanischem Schaffensdrang. Fleisch versus Geist, dies binäre Denken verdanken wir den antiken Meisterdenkern, da wird alles gleich miterledigt, was nicht das Mikro hat. Quasi.

Der GELDJUDE
Das JUDENGELD

Das zweite Bild: neben den „Saujuden“ tritt der GELDJUDE. Er tritt nicht neben den Geldchristen oder den Geldmoslem. Wir haben es mit einer besonderen nicht-jüdischen Obsession zu tun: der Besitz von Geld macht den Juden hassenswert. Nicht beneidenswert. Wie es realen Reichen ergeht. Die Tatsache der Verbindung Juden und Geld ist empörend. Das Geld der Juden erscheint von Nicht-Juden/ Christen beschlagnahmtes Geld zu sein. Das besessene Geld, wahrlich eine Besessenheit der Nicht-Juden, wird zu JUDENGELD und ist kontaminiert.

Engelbert Humperdinck an seine Eltern

Am 25.11.1882 schreibt Engelbert Humperdinck an seine Eltern:
„ […] ging ich aber gar in die große oper, um als gewissenhafter Meyerbeer-stipendist Meyerbeer‘s ‚Propheten‘ zu hören und zu sehen, so bekam ich das unausstehliche gemauschel so satt, daß ich am liebsten der Berliner akademie ihre judengelder vor die Füße geworfen hätte, um dabei als solider deutscher kapellmeister kümmerlich aber heiter mein dasein zu fristen.“

Hier haben wir das ganze Elend glanzvoll versammelt: Die Berliner Akademie ein Tempel, Humperdinck ein (verhinderter) Jesus. Judengeld meint Judaslohn. „Mauscheln“ – gut antisemitisch seit dem 19. Jahrhundert verbreitet – meint nichts weniger als Bescheiszen, der Komponist Meyerbeer ist also ein Tonbetrüger. Deutsch gleich kümmerlich, aber ehrlich. (Sprachgeschichtlich geht das Jiddische Mauscheln auf Moses zurück.)
Warum nahm der gute Humpi es eigentlich an, das Stipendium? Vermutlich, als immerwährende Inspiration der soliden Erfindung von Deutschheit, märchenhaft und haszerfüllt gegen, ja, gegen was: das Andere/ das Fremde/ das Europäische?

Zwei Begriffe bieten sich hier an für das Verständnis dieser Szene: das ist der des „Antisemitismus als kulturellem Code“ der israelischen Historikerin Shulamit Volkov (1990) und Peter Schäfers Bezeichnung des wilhelminischen Bürgertums als „antisemitischer Konsensgesellschaft“. Innerhalb dieser Gesellschaft lebte Humperdinck als Mitglied des Wahnfried-Zirkels und somit in einem Hot-Spot des Judenhasses.
Gewisz hatte man das in den späten 1870er Jahren erschienene Pamphlet „Der Mauscheljude“ in der Salon-Bibliothek. Die Aufzählung einschlägiger Werke der Zeit würde den Abend in Wagnerische Länge ziehen. Chefideologe und einer von Hitlers Lieblingsautoren Houston Steward Chamberlain (geboren 1855 in Portsmouth, gestorben 1927 in Bayreuth) heiratete 1908 Eva Wagner, Richard und Cosimas jüngste Tochter. 1899 erschien sein ebenso gelehrtes wie verquastes „Grundlagen des 19. Jahrhunderts“. Ein Detail, das später den Deutschen Christen sehr gefiel: Jesus war kein Jude.

Die Verbindung Geld-und-Jude ist fest verankert auf Deutschen Bühnen: Lessings Nathan und Shakespeare Shylock im Kaufmann von Venedig sind vor allem: reich. (Sie haben noch ein paar andere Eigenschaften, gewisz.)

Fassbinder und „der reiche Jude“

Ich erinnere mich noch an einen Theaterskandal der 1980er Jahre um einen „reichen Juden“, er hatte tatsächlich keinen Namen. Das Stück basiert auf Gerhard Zwerenz Roman „Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond“, geschrieben und inszeniert hat es Rainer Werner Fassbinder unter dem Titel „Der Müll, die Stadt und der Tod“, die Uraufführung sollte am 31. Oktober 1985 stattfinden. Hauptperson ist der „schwerreiche“ Spekulant, ein Remigrant, dem seine Mutter den Auftrag mitgab, sich durch hemmungslose Bereicherung an den Deutschen für erlittenes Unrecht zu rächen. Der jüdische Rächer – ein Stereotyp der jungen Bundesrepublik. Und ein Exempel für die Täter-Opfer-Umkehr. Aus den Arisierungsgewinnern, die die Grundstücke im Frankfurter Westend erworben hatten, wurden „Vertriebene“, gar „Deportierte“. Autor Zwerenz rechtfertigte sich übrigens 1976 mit einem Artikel in der Zeit: „Linker Antisemitismus ist unmöglich“. Intendant Rühle meinte mit dem Verdikt „Die Schonzeit ist vorbei“ für die Inszenierung werben zu müssen.
Ich sagte eben: die Uraufführung des Fassbinder-Stockes sollte im Oktober 1985 stattfinden. (Ursprünglich war es sogar auf den 9. November terminiert.) Doch es kam hier, wahrscheinlich erstmals, durch eine Besetzung der Bühne durch Mitglieder der Jüdischen Gemeinde nicht dazu.
Die FR wähnte in ihr übrigens „herrschende Kreise der Stadt“. Eine Unterstellung, auf die wir noch kurz zu sprechen kommen müssen.
Befürworter der Aufführung setzten die Aktion mit der Bücherverbrennung gleich und es erklangen Rufe: „Kommen Sie mir doch nicht immer mit Ihrem Auschwitz“ und „Wenn es Euch hier nicht gefällt, warum geht Ihr dann nicht weg?“Seither sind viele Sagbarkeits-Grenzen verschoben worden, die Begriffe „links“ und „rechts“ taugen immer weniger zur Orientierung. Der Nach-Shoah-Antisemitismus wird trefflich als „Schuldabwehr-Antisemitismus“ genannt.

Der reiche Jude ist eine Zwangsvorstellung. Es gehört zur Absurdität des Antisemitismus und das unterscheidet ihn von anderen „Rassismen“, dasz das Gegenteil gleichzeitig gilt und wirkt: der Jude ist der reiche feiste Jude und ist der arme zerlumpte Jude, der Kapitalist und der Marxist, der Anarchist und der Wallstreet-Bankier. All das hängt auf geheimnisvolle Weise zusammen!

Die jüdische Weltverschwörung

Womit wir beim groszen gräszlichen Thema der jüdischen Weltverschwörung wären. Die Hauptquelle und Hauptreferenzwerk des Antisemitismus, noch heute gern gelesen, sind die „Protokolle der Weisen von Zion“. Entstanden ist das Machwerk im zaristischen Ruszland, kompiliert aus verschiedenen erfundenen und gefälschten Quellen. Den letzten Schliff verpaszte dem Werk die zaristische Geheimpolizei. Erst-Publikation in einer Petersburger Zeitung 1899. Inhalt der „Protokolle“ sind die angeblichen Pläne des „Weltjudentums“ (auch so eine Schimäre) zusammen mit den Freimaurern die „Weltherrschaft“ zu übernehmen. Vorgeblich handelt es sich um Protokolle dieser „Weltverschwörer“.
Der Siegeszug der „Protokolle“ in Europa begann nach Ende des 1. Weltkrieges. In der muslimischen Welt mit einer ägyptischen Ausgabe 1951.
Deutsche Wissenschaftler traten dem fatalen Unsinn nicht entgegen.
1935 haben sich Berner Juden gewehrt und erfolgreich einen Prozesz wegen Volkshetzung angestrengt. Es wurde damals gutachterlich festgestellt, dasz es sich um Fälschungen handelt.

Dem Erfolg der „Protokolle“ tat das kaum Abbruch. Bereits 1924 gab der galizisch-österreichische Autor Binjamin Wolf Segel eine erste kritische Bestands-aufnahme heraus – Untertitel „Eine Erledigung“. Beklemmend ahnungsvoll schreibt er: „Wir sagten uns, es ist überflüssig, gegen dieses dumme Zeug anzukämpfen, das wird über kurz oder lang unter dem Hohnlachen der ganzen Welt zusammenbrechen. Wir haben uns getäuscht. Wir haben die Dummheit und Leichtgläubigkeit der Welt sehr erheblich unterschätzt.“

Auf der Ebene der realen Politik und der von Juden erlittenen Geschichte ist die Verbindung Geld und Judentum tatsächlich eng. Bereits im 10. Jahrhundert drängten die Christen die Juden mehr und mehr aus dem Handel und in den ungeliebten Geldverleih. Das Verbot des Geldverleihs gilt für Juden wie Christen gleichermaszen. (Deuteronomium 23,20: „Du darfst von Deinem Bruder keine Zinsen nehmen … von einem Fremden aber darfst Du Zinsen nehmen.“)
Bei allen regionalen Unterschieden im späteren deutschen Reich ist bis ins 19. Jahrhundert kennzeichnend der Ausschlusz von Juden aus allen öffentlichen Ämtern. Und ihr Ausschlusz von allen Zünften bis ins 18./ 19. Jahrhundert.
Ihr Rechtsstatus ist niemals gesichert – und er ist – anders als der der anderen Untertanen – abhängig vom obersten Regenten, dem Kaiser. (Was nicht vor Vertreibungen schützt.)
Ende des 11. Jahrhunderts taucht zuerst der Begriff der Kammerknechtschaft auf. Die Kammer ist die Staatskasse. Juden sind Kammerknechte. D.h. sie sind in allen Rechtsgeschäften komplett vom Kaiser abhängig.
Wer einen Juden verwundet, zahlt die Strafe an den Kaiser. Sie sind „Staatseigentum“. Juden müssen Sondersteuern bezahlen. Religions-Hasz und diese Sondersteuern führen zu Pogromen – die erste grosze Massaker-Welle begann mit dem Ersten Kreuzzug in den Jahren 1096 bis 1099. Vor allem der einfache Klerus hetzt. Der Papst verspricht den Kreuzfahrern den Erlasz der Schulden bei jüdischen Kreditgebern. Juden wurden zur Finanzierung der Kreuzzüge herangezogen.
Mitte des 14. Jahrhunderts zerstörten Christen mindestens 100 jüdische Gemeinden – das Ende des jüdischen Lebens in Deutschland. Vertreibungen waren immer Teil einer Dynamik aus Ausgrenzung, Verleumdung, Ausbeutung, Plünderung und Mord.
Fazit: Es ist nicht wie bei Shakespeare: Nicht Shylock klagt das Fleisch des Christen ein – die Christen klagen Shylocks Fleisch ein. Von den Kreuzzügen bis zu einer „Reichsfluchtsteuer“ von 96 Prozent im Jahre 1939.

Das BLUT

Es ist so einfach, sich darüber lustig zu machen. Es ist gefährlich, sich nur darüber lustig zu machen. Der Quatsch mit Q mausert sich gerade zu einer einfluszreichen, interaktiven Digitalsekte. Q-Anon, dies wahrscheinlich bizarrste Verschwörungsnarrativ hat sich innerhalb von gerade mal drei Jahren zum vielleicht erfolgreichsten gemausert. Der Attentäter von Hanau, der am 19. Februar 2020 9 Menschen erschosz hing der irren Idee an, die Heilpraktikerin, die vor einem Jahr aufrief, den Reichstag zu stürmen teilten den irren Quatsch von Q-Anon (ebenso ein bekannter Vegan-Koch und ein Mannheimer Sänger). Kern-Idee von Q-Anon ist: Kinder werden weltweit entführt und festgehalten, um ihnen das Blut abzuzapfen. Blut, aus dem ein Verjüngungsmittel hergestellt wird. Die Blut-Klau-Story ist auf den ersten Blick nicht nur antisemitisch – so werden hinter der Weltverschwörung nicht nur Juden vermutet. Zu den Drahtziehern gehören potentiell viele, in den USA aber Hillary Clinton, Barack Obama, George Soros. (Eine Frau, ein Schwarzer, ein Jude.)

Ritualmord

Im Kern eine ur-antisemitische Komplott-Idee. Fast alle Ingredienzien sind dabei: Juden entführen Kinder, Juden beherrschen mit ihrem Geld die Welt. Das Zauberwort, es gibt dafür den schönen Ausdruck des „Dog-Whistling“ lautet: die globale Bankenelite. Zuweilen fällt auch der Name Rothschild. Auch die „Protokolle der Weisen von Zion“ dienen als „Beweise“. Hier musz auch/ noch einmal gesagt werden: es gibt und es gab niemals Beweise für das Entführen von Kindern zu diesem Zweck.
Die Ritualmordlegende gehört zum Kernbestand der Mythen, die zum Morden führten. Es erinnert an den Schweine-Topos: denn hier wird den Juden unterstellt, das ihnen verbotene zu tun. Nämlich: Blut zu sich zu nehmen. Die erste bekannte Beschuldigung, dasz Juden Kinderblut trinken, stammt aus dem Jahre 1144 aus dem britischen Norwich: ein christliches Kind wird – jedes Jahr in der Karwoche – gefoltert und getötet. 1171 wird in Blois an der Loire nach einer solchen Beschuldigung ein groszer Teil der jüdischen Gemeinde auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Anfang des 13. Jahrhunderts breitet sich die Ritualmord-Legende im Deutschen Reich aus. So kommt es 1235 in Fulda zum Massaker an 32 Juden, da diese Kinder getötet und ihr Blut in Lederschläuchen abtransportiert hätten. Wie ein Flächenbrand verbreitet sich – so Peter Schäfer – die Ritualmordlegende.
In einigen Fällen wurden die – wie auch immer zu Tode gekommenen – Kinder zu Heiligen erklärt. So ein Knabe aus Trier, ums Leben gekommen 1287. Der Kult um den Jungen wurde erst in den 1960er Jahren vom Bistum Trier unterbunden. Ebenso wie der Trienter Knabe Simon (wir hörten im Kap. Judensau von ihm) – seine Selig-Sprechung hob Rom erst 1965 auf.

Das Blut-Motiv wird auch im bereits erwähnten Drama von Rainer Werner Fassbinder aus den 1970er Jahren aufgerufen: „Er saugt uns aus, der Jud. Trinkt unser Blut und setzt uns ins Unrecht, weil er Jud ist und wir die Schuld tragen. … Und schuld hat er, weil er uns schuldig macht, denn er ist da.“ Siehe oben, Schuldumkehr, Schuldabwehrantisemitismus.

Ein Blut-Motiv, das die Nähe, ja, die Verwandtschaft von Juden- und Frauenhasz offenbart, ist die Jüdische männliche Mens. Ein Blutfaden führt zur Ritualmord-Story. Im 13. Jahrhundert erfindet der christliche Anatomiker Thomas von Cantimpré die männliche Regel. Ein ausgedachtes Phänomen, gedacht als Sühne für das vergossene Blut Christi. Also: die Juden haben Blut vergossen, deshalb bluten sie, deshalb dürfen die Christen sie „ausbluten“.
Jüdische Männer sind weibische Männer, ihre Männlichkeit ist denaturiert.
Beide, Juden und Weiber gilt es zu beherrschen. Der eigenen Befreiung wegen musz der deutsche Mann diese Anteile eliminieren. Weib und Jude sind schlieszlich pure Materie. Das feiert 1903 der sich selbst hassende Jude und glühende Wagner-Fan Otto Weininger in seinem Bestseller „Geschlecht und Charakter“. Bevor „er seine Leiblichkeit vernichtete“ – wie auf seinem Grabstein zu lesen ist.

Erfindung von RASSE

Im wissenschaftsgläubigen 19. Jahrhundert reichert sich der alte Antisemitismus, der längst eliminatorische Züge trägt, mit dem Rasse-Gedanken an. Blut ist der hehre Ausdruck für Rasse. Einer der immens zahlreichen antisemitischen Agitatoren ist der für die Gartenlaube schreibende Autor Otto Gladigau (gest. 1892) – die Zeitschrift Gartenlaube hatte bis zu 2 Millionen Leser. Eine „degenerirte Race“ seien sie, eine Taufe liesz er nicht gelten. Oberste Bösewichte seien die Börsianer. Das las man im kleinbürgerlichen Biedersinn-Milieu.
Der Hofprediger Stöcker (gest. 1909) gründete zwei antisemitische Parteien und befeuerte den Judenhasz in Kirchenkreisen. Stöcker repräsentiert die antisemitische Einstellung des kaiserlichen Hofes in Berlin. Der Berliner Professor Heinrich von Treitschke (gest. 1896) trug den kaiserzeitlichen Antisemitismus in die Universitäten. Von ihm stammt der Erfolgs-Slogan: „Die Juden sind unser Unglück!“
Neben Houston Stewart Chamberlain war es der Nationalökonom Eugen Dühring (gest. 1921), der in den 1880er Jahren den RASSE-Gedanken in den Vordergrund stellte. Die Juden müszten aufgrund ihrer Rasseeigenschaften (u.A. Selbstsucht, Unmoral, Hasz aufs Menschengeschlecht, Unfähigkeit zu künstlerischen oder wissenschaftlichen Leistungen) von allen bürgerlichen Rechten ausgeschlossen werden, sie müszten vielmehr, da sie als „Parasiten“ zu sehen seien, „ausgeschieden“ werden. Es macht keine Freude, diese Denker aufzuzählen – ich habe mich hier auf eine kl. Auswahl beschränkt.

Warum im Kaiserreich?

Warum entstand diese Blut-Variante des Antisemitismus gerade im Wilhelminischen Kaiserreich? Eine gängige These, dasz Antisemitismus – vielleicht auch generell Gruppen-bezogene Menschenfeindlichkeit und Hasz auf Minderheiten – immer Symptom einer Krise ist, läszt sich hier keineswegs beweisen. In stabilen Zeiten und in Zeiten von Emanzipationsbewegungen „blüht“ der Antisemitismus und der Antifeminismus. Im Kaiserreich ist der Antisemitismus eine Begleiterscheinung Nationaler Identitätssuche.
Es stellt sich natürlich die Frage, wieso eine Identität nur in aggressiver Abgrenzung und totaler Abwertung zum „Anderen“ geschehen kann. Und was mag das dann für eine dann sein? Die französische Rabbinerin Delphine Horvilleur (Jahrgang 1974) entwirft in ihren „Überlegungen zur Frage des Antisemitismus“, in deutscher Übersetzung erschienen 2020 eine jüdische Identität, die durch einen inneren Spalt, einen Bruch gekennzeichnet ist. Sie pflichtet Derrida bei, für den „die Identität des Juden des Juden sei, nicht mit sich selbst identisch zu sein“. Wer Brüche und ein Dazwischen in der Identität nicht aushalten könne, sei praktisch schon Antisemit. Dem Antisemiten ginge es immer darum, die eigene identitäre Schwachstelle loszuwerden.

Der Romanistik-Professor Victor Klemperer, den die Nazis 1935 aus seiner Universität der TU Dresden, jagen, leitet seine Abhandlung über LTI – die Lingua Tertie Imperii, schon der Titel ist böse Satire, mit einer Sentenz Franz Rosenzweigs ein: „Sprache ist mehr als Blut.“
Herausgeworfen wird Klemperer aufgrund des „Reichsbürgergesetzes“. „Reichsbürger“ ist damals „Staatsangehöriger deutschen oder artverwandten Blutes“. Gleichzeitig erlassen wird das „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“, kurz Blutschutzgesetz. Mit diesen Nürnberger Gesetzen wurde das NSDAP-Parteiprogramm von 1920 umgesetzt, das dekretierte: „Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist, Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist.“ Der Begriff ist groszes Mysterium und zugleich eines der wirkmächtigsten NS-Unrechtsgesetze. Blutrausch und geistiger Blutsturz, ich schmecke Blut auf der Zunge, ein schwarzer Geschmack nach Eisen. Aber wäre es nur das. Religion des Blutes, Blut und Boden, Blut und Ehre, Blutschande und Blutverrat, Blutzeugen, Blutfahne und Blutorden, Blutbewusztsein und Bluteinsatz. Es ist immer IHR Blut, das der Deutschen und es ist ein meta-physisches Blut. (Ich selbst habe Blutgruppe A.) Das andere Blut ist das Blut der Anderen, das sie vergieszen wollen: Seit den zwanziger Jahren sangen diese Blutsdeutschen vom „Judenblut“ das vom Messer spritzt und die Laune verbessert. Ab 1990 wird es wieder gesungen und ist heute fester Bestandteil der Rechtsrockszene.

Das WARUM

Schluszbemerkung: Die Frage nach dem WARUM ist schwierig. Warum gibt es Antisemitismus?
Die Antwort-Erwartung geht oft in Richtung: Was haben SIE denn getan. Uns. Auszerdem: Etwas Irrationales Rational erklären? Schwierig.
Von der Erfinderin des Goldenen Aluhutes, Giulia Silberberger, habe ich gelernt, dasz es sinnlos ist, VerschwörungstheoretikerInnen mit Argumenten und Fakten beizukommen. Ihr Ansatz ist eher die Frage: warum glaubst Du das? Ihr Ratschlag in konkreten Situationen, in denen von Lügenpresse oder Pädophilenringen die Rede ist: Ich möchte das in meiner Gegenwart nicht hören. Gegenrede müssen Sie hinnehmen. Und damit ist das Gespräch beendet.

Quellen, verwendete Literatur:

  • Delphine Horvilleur
    Überlegungen zur Frage des Antisemitismus
    Berlin 2020
  • Peter Schäfer
    Kurze Geschichte des Antisemitismus
    München 2020
  • Juden. Geld. Eine Vorstellung
    Ausstellungs-Begleitbuch des Jüdischen Museums Frankfurt am Main 2013
    davon das Kapitel „… Als ob man ein Bündel raschelndes Papiergeld küszt“ – Reiche Juden in der westdeutschen Nachkriegsliteratur von Stephan Braese, S. 392 – 406
  • Gundula Caspary, Christian Ubber (Hg.)
    Hokuspokus Hexenschuss – Engelbert Humperdinck nach 100 Jahren
    (Begleitpublikation anlässlich der gleichnamigen Ausstellung 2021)
    Lohmar 2021