Alltag, Feminismus

La Motta hat Geburtstag

Oder: Recherche im Keller

Dumpf, leicht süszlich, oder eher säuerlich, klamm, pfefferig, eng – nein, es war unmöglich, einen Geruch zu beschreiben. Nicht nur den hier im Mehrfamilien-Mietshauskeller. Ein unebener Estrich, auf dem jahrelang nicht gefegt worden war. Ihr Schlurfen wurde vom Klacken des Kellerlichtes getaktet. Ihr fiel ein Traum ein, den sie vor einigen Wochen geträumt hatte, seither oft erzählt, hatte er etliche Variationen erfahren: sie hatte sich durch eine Landschaft bewegt, eine Stadtschaft könnte es auch gewesen sein, auf die Untertitel geschrieben waren, weisse Schriftbänder, die mal schnell, mal langsam ausgewechselt wurden. Mit der ersten Widergabe der Episode stand der Sinn ein für allemal fest: ihr fehlten schlicht die Namen der Sinneseindrücke. Hatte sie es geträumt oder tagträumte sie von dem Regal mit hunderten von Flacons auf deren verschiedenfarbigen Etiketten Wegweiser gedruckt waren: Waldboden, Sommer in der Provence, überreife Ananas? (Sicher befanden sich auf Bückniveau die weniger schmeichel-haften Düfte.) Dieses denkend, tauchte in ihrem Blickfeld, gerahmt durch Maschendraht, der auf Latten genagelt war, eine Batterie von Weckgläsern auf. Weckgläser – ein Wort wie ein Aufschrei aus der besseren Vergangenheit, Einkochen, Einmachen, Einwecken, Fermentieren, Dörren, Pökeln. Zog man die Not und den Neid ab, blieb Nachhaltigkeit nach und ein freundlicher Umgang mit Ressourcen. Wo war nur der nächste Lichtschalter? Das Klacken klang plötzlich lauter, gleichzeitig schien die vergitterte Birne mit geringerer Strahlkraft und liesz in dem Keller-Gelasz nur etwa eine Armlänge Inhalt erkennen. In den Weckgläsern befanden sich grünliche, bräunliche und gelbliche Schnippsel, Kugeln und Schiffchen. Der Staub umhüllte die Gläser wie ein Cape. Annabelle konnte sich nicht vorstellen, dasz die Gläser keine Aufschriften trugen, erkennen konnte sie aber keine. Neben dem Vorhängeschlosz ein ausgeblichenes Pappschild: Kröger.

Wie hiesz nochmal ihr Vormieter? Es war auf jeden Fall ein langer Name mit S vorne und hinten einem C und einem Z. Der Gang schien Kilometer lang. Schon jetzt war sie ein vielfaches der Breite des Mietshauses abgeschritten. Die Lichtschalter, die eine regelmäszige Beachtung einforderten, flackerten in einem milden Violett-Ton. Annabelle schien, als ginge es leicht abwärts. Mehrere Keller-Käfige waren so angefüllt mit Gegenständen, dasz ihr die Art und Weise der Befüllung rätselhaft war. Wem nur war Leerung zugedacht? Kein Name, der mit S begann. Sie atmete hörbar aus. Es war ein Straflager, eine Strafkolonie der straffällig gewordenen Dinge, ausbruchssicher und outgesourcet. Die Dinge waren schuldig geworden gegenüber ihren Besitzern, sie waren ihnen langweilig geworden, waren schadhaft geworden. Oder die Besitzenden hatten schlicht den Sinn der Dinge vergessen oder die Mensch-Ding-Beziehung war abgebrochen wie der Gartenschirm dort. Der Hausmeister hatte ihr nach Abzeichnung des Übergabeprotokolls der Wohnung, „besenrein“ betonte er mehrfach, derweil es Annabelle nicht gelang, sich ein entsprechendes Borstengerät vorzustellen, in die Hand gedrückt – „Leider musz ich dringend in die Nummer 76, ein Rohrbruch.“ Sie hatte ihm mit der noch geöffneten Schlüsselhand nachgesehen, wie er betont langsam treppab ging und offenbar noch mit einer entgegenkommenden Mieterin den plötzlichen Kälteeinbruch diskutierte.

Im Käfig von Mahrenholz war eine Schlafstätte, auf einer Kiste standen Teelichter. Das nächste Fach war namenlos und der kleine Schlüssel paszte. Schnell nochmal auf den Lichtschalter drücken! Was hatte sie erwartet – wohl kaum einen leeren Raum. Eine Wohnung en miniatüre, ein geschrumpftes Abbild ihrer eigenen, neuen und noch leeren Wohnung empfing sie. Auf dem Tisch stand eine Taschenlampe mit rotem Kopf, wie sie vor Jahrzehnten in Gebrauch war. Sie funktionierte. Im Lichtkegel an der Stirnwand ein aufgemaltes Fenster, daneben ein String-Regal mit Büchern.

Wurde sie beobachtet? War das am Ende eine Versuchsanordnung?

Im Regal standen Bücher, die erheblich älter sein muszten als dieses Mietshaus. Ringsherum waren Möbel entlang von Kreidestrichen aufgereiht, jedes Teil in Keller-Gefach-Proportion. Eine Einbauküche und eine Badestube für gröszere Puppen, eine Wohnstube mit Schrankwändchen, Couchecke und Couchtischchen, das Schlafzimmer war weisz und matt glänzend, ein Ehebett, ein Schrank mit Spieglein.  Nur die Bücher hatten Originalgrösze, Bücher mit Lederrücken und goldgeprägten Lettern, Bücher, die nicht auf dieses Regal gehörten.

War es überhaupt der Keller, der zu ihrer Wohnung gehörte?

Annabelle steckte die Taschenlampe in den Ausschnitt ihrer Bluse, sie brauchte beide Hände, um einen der Folianten zu entnehmen. Der Goldschnitt war staubfrei, und auch die im Regal entstehende, mittige Lücke war es.

Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Mitvormund bis Nocturnus.[1] Der Band öffnete sich von selbst auf Seite 123, Spalte eins, Motta bis Motte. Annabelle läszt sich in die Couchgarnitur fallen, ihr Gesäsz hat exakt die Sitzmöbel-Breite. Tack, das Kellerlicht erlischt. Motta, Motte, Motten. Alle Wörter fliegen hoch. Die Wörter sind bei ihr, umschwirren sie und ihre Taschenlampe, scheinen aber zunächst leer zu sein. Gleichzeitig sind sie im Buch. Als Ton sind sie in ihrem Kopf. Motta, Motte, Motten. Sie sind so leicht, dasz sie ohne Bedeutung davonflattern. Motta kreiselt in Annabelles Hirn von A nach B. Motta flog gegen einen Kellergang im Oberstübchen von ihr. Da fiel es ihr zu: La Motta war ihr begegnet, klanglich erst, am ersten Tag ihrer Wohnungssuche in der neuen Stadt. Sie hatte sich im Bus extra und betont unauffällig neben das mittelalte Frauenpaar gestellt. Viele Namen kamen vor, kleine Klatschgeschichten und immer wieder La Motta. Die Frauen stiegen vor Annabelle aus, diese Wohnung würde schon wegen der Entfernung zum Zentrum nicht infrage kommen und La Motta bewegte sie nun hin und her, etwas zwischen Motto und Mantra, zwischen Motor und Motte. Beim Aussteigen war die Erinnerung da: Kind war sie, in der Erinnerung gleichzeitig grosz und nicht in der Lage über die Truhe zu blicken oder den köstlichen Inhalt der weiszen Truhe mit den Schiebetüren oben selbst zu sichten. Die 50 Pfennig waren warm und schwitzig, der Sommer endlos, das Kind war vielleicht das erste mal allein beim Kaufmann, wurde vielleicht übersehen, auf jeden Fall stand es vor der Geschäfts-Inhaberin wie vor einer ganzen Ansammlung von Respekts-personen, solche, die gemeinhin Uniform tragen. Eine Art von Uniform war der hellgrüne Kittel, darunter aber trug die junge Frau einen kurzen Rock. Die Brosche ganz oben wollte sich davonmachen, flatterte glitzernd, die Fühler des Insektes wippten.

„Die Eissorten da auf der Tafel, mehr nicht, alles La Motta, original italienisch, die haben das schlieszlich erfunden.“ Das Kind wollte Erdbeere, es wollte Vanille, es wollte Schokolade, es wollte Himbeere, Kirsche, Nusz und Orange. Frau Piependreiher hatte aufgemalte Wimpern unter den Augen und sehr rote Lippen. Schiebetür auf, das Kind bekam ein Stieleis im Papier in die Hand gedrückt, die Münze kratzte Frau Piependreiher ihr mit den Fingernägeln aus der Hand.

Wörter kamen in Paaren vor, meist in Schwärmen, alle ähnelten einander, Annabelle klatscht und die hochfliegenden Wörter nehmen wieder Platz auf den Seiten von Meyers Enzyklopädischem Lexikon. Spalte eins, Motta bis Motte. „La Motta, 1. Ältere Bedeutung: Eiscreme-Eigenname, geht zurück auf die 1919 von dem Mailänder Angelo Motta gegründete Süszspeisenfirma, Eisproduktion seit 1955, heute Teil des Nestlé-Konzerns. 2. Neuere Bedeutung: 2014 gegründetes Frauencafé in Hamburg-Altona, ehrenamtlich organisiert.“[2]

Annabelle streichelt über den Goldrand des Lexikons. Nur einmal im Leben hatte sie ein Lexikon besessen, ein Jugendweihe-Geschenk mit grau-blauem Leinen-einband. Schon bei ihrem ersten Umzug hatte sie es weggeworfen. „Name in Anlehnung an das Stadtteilzentrum Die Motte in einer ehemaligen Schokoladen-fabrik.“ Erneut flattern die Wörter auf, ihr Flügelschlag (ist) ein aufsteigendes Prelude. Motta, La. Wieder stand das Kind Annabelle vor der Wand der Eistruhe.

Diesmal war sie unsichtbar. Über dem Schriftzug GELATI MOTTA mit dem durchgezogenen T-Strich eine Vanilleeis-genieszende Blonde im Windkanal. Als die Frau den kleinen blauen Eisbecher geleert hatte, öffnete sie die Eistruhe und befreite die in ihr eingesperrte Musik. Der Truhe entstieg ein jungenhaftes junges Mädchen, das „Wenn ich ein Juuunge wär“ sang. Das u sang sie dunkel wie Schokolade, wie ein Stück Borkenschokolade steckte es auf dem Fürst-Pückler-Eis ihrer, Annabells, Jugend. Attenzione, Amalfi, Amore, Aspettare, Abbandonare, Arrivederci. Lauter Krokant-Schnörkel, Verzierungen auf deutschem Napfkuchen, das muszte sein; die Sängerin änderte mit den Jahren ihren Look, von ihrem Akzent durfte sie nicht abweichen. Annabelle wünschte sich zum Abschied „Arrivederci Hans, das war der letzte Tanz!“.

Von Motta zu Motte war es nur ein Wimpernschlag.

Die Motte war doch ein Tier, oder? MOTTE klang in Annabells Ohren zart und schön, eventuell war es als Kosename auch in ihrem Leben zur Anwendung gekommen. Vom Klang getrennt die Wahrnehmung des Tierchens: Spalte 2 auf Seite 123: „Motte, volkstümlicher Ausdruck für alle kleinen, unscheinbar gefärbten Schmetterlinge; in zoologisch systemat. Sinn nur die Überfamilie der Tineoidea, die auschlieszlich kleine Schmetterlinge mit schmalen, am Hinterrand lang befransten Flügeln umfasst, deren Raupen in selbst gefertigten Gespinströhren leben. Zu diesen M. gehören: Mehlmotten, Kleidermotten, Pelzmotten, Tapetenmotten, Kornmotten.“[3]

Zwei Seiten weiter eine farbige Abbildung mit einem Blatt Seidenpapier davor.

Sollte Meyers Enzyklopädisches Lexikon hier Motten vergessen haben? Die Kellermotten, die Buchmotten, die Museumsmotten, die Kistenmotten, die Restmotten, die Vergangenheitsmotten? Motten laben sich an menschlichen Artefakten und an dem von Menschen Abgelegten. Das fehlte hier: es waren Kulturfolger, die nur fressen, wenn Menschen nicht zuschauen. Wie schade, dasz in dem Lexikon nicht die Beiszwerkzeuge zu sehen waren, mit denen sie den Menschen die Schäden zufügen. Die Beiszwerkzeuge der Larven, die fertige Motte nimmt keine Nahrung zu sich.  Vielleicht waren die Illustrationen rausgefressen? Was die Kleidermotten anging, die gewisz auch in diesen Mietshausgewölben heimisch waren, nahmen sie nur das Feinste und Beste zu sich – Seide, Wolle, Kaschmir und Pelze. Annabelle sah sie alle hochfliegen.

Und dann hatte sich der Schwarm der gleichklingenden und verschiedenfarbigen Wörter auf ein neues Objekt gesetzt. Es war ein steiler Holzschuppen auf einem kleinen Hügel, oben war ein Umlauf. Annabelle holte sich Rat im vergoldeten Folianten: Spalte 2, Seite 123: „Motte (Burg): Eine Motte (französisch motte „Klumpen“, „Erdsode“) ist ein vorwiegend in Holzbauweise errichteter mittel-alterlicher Burgtyp, dessen Hauptmerkmal ein künstlich angelegter Erdhügel mit einem meist turmförmigen Gebäude ist. Weitere deutsche Bezeichnungen sind Turmhügelburg, Erdhügelburg und Erdkegelburg.“[4]

Ein langer Spaziergang würde das werden, wenn Annabelle die folgenden Textmengen alle abschritte. Forschungsgeschichte, Vorkommen, Funktionen, soviel Spalten wie Burgen. Dabei, das lehrte ein kurzes Querlesen, existierten diese Motten nicht mehr. An dieser Stelle der aversiven Annabellschen Gedanken flog ein ansehnlicher Schwarm auf, lauter leise Nachtfalter, die Flügel streiften ihre Schläfe, so war das also. Es war nicht angängig, abgegangene Burgen für nicht existent zu halten. Ebenso wenig, wie Luftburgen. Annabelle suchte nach dem passenden Wort. Der Mottenschwarm zog weiter in das nächste Keller-Gelasz. Annabelle war kurz wieder das Kind, das Kind, eine Motte bauend und das Bauwerk eine Sandburg nennend. Das Kind klopft mit dem Kinderspaten die Seiten des Burg-Berges glatt, da kommt ein blödes Mädchen und drückt auf die schon fertigen Seiten Muscheln und bunte Steine, die noch dazu nach Geschäft aussehen. Das blöde Mädchen bekommt den Spaten mit der glatten Seite über den Kopf gezogen und zieht ab. Die Burg-Basis brauchte eine grosze Stabilität. Wenn man den Kopf daneben legt und gleichzeitig auf den Burg-Kegel und in die Ferne schaut, weisz man nicht, ob man ein Kind am Strand ist oder ein Mensch des Mittelalters und nicht die Ostseewellen sondern die gefährlichen Ungarn heranrollen, die reiten wie die Teufel. Schneller als sie sind nur die Gerüchte über ihr Herannahen. Die Ungarn und andere ungare Gerüchte haben sich wie eine Gespinströhre um die Holz-Motte herumgelegt. Annabelle steckte aus Stileis-Holz eine Palisadenwand und setzte eine Spielfigur hinein. (Die Spielfigur stellte einen Elastolin-Indianer mit Tomahawk dar, das war aber gänzlich unerheblich.)

Aus Maden wurden Motten, die nicht mehr fraszen, eine Strandburg war dasselbe wie eine Mittelalter-Burg. Wörter flogen auf und wechselten ihren Sinn. In die Eistruhe konnte das Kind nicht hineinsehen. In einer Enzyklopädie waren die Zeiten aufgehoben, was eine Konsequenz des Wortes Zyklus sein konnte, das in dem Wort steckte. La Motta und Die Motte flogen einen weiten Bogen. Ein Eintrag fehlte Annabelle noch. Vor der Burg liegend, sie quasi belagernd, ihre eigene Burg, kam ihr noch eine Fehlstelle in den Sinn, nach der das Buch noch zu befragen wäre: wie wäre die Geschichte vom Inneren der Burg aus gesehen? Wenn die Spielfigur, hier also zufällig ein Indianer, ein Native American worauf das Lexikon verweist, von der Burg erzählt? Die Burg-Motte ist ein repräsentativer Wohnsitz, höher wohnen als die anderen – vgl. im Auto höher sitzen als andere ist ein Merkmal sozialer Distinktion und gefühlter Sicherheit. Angehörige des  niederen Adel, abhängig beim höherem grundbesitzenden Adel Beschäftigten, lebten hier.

Fehlte noch die Mottenburg, nein, Mottenburg, ohne Artikel.

„Mottenburg – am wahrscheinlichsten ist ein Zusammenhang mit den ungesunden Lebensverhältnissen während der Industrialisierung. „Die Motten“ war eine umgangssprachlicher Bezeichnung für Tuberkulose, eine Krankheit, an der viele Arbeiter litten – auch in Ottensen. 1950 wurde der Spitzname sozusagen offiziell, als man die Hörmannstrasze in Mottenburger Strasze umtaufte. 1976 kam dann noch die Mottenburger Twiete hinzu.“[5]

Drehte man das Wort Burgmotte um, drehten sich auch die Verhältnisse. Annabelle nahm sich vor, das Phänomen im Auge zu behalten. Tuberkulose also. Die Schwindsucht. Die Motten waren in die Körper der IndustriearbeiterInnen hineingeflogen, um in ihren Lungen zu hausen und von ihrem Leben zu leben. Annabelle schlosz mit einem Kopfschütteln das Buch mit dem Goldschnitt, erhob sich vom paszgenauen Sofa und stellte es zurück ins Regal.

Ein mittelgroszer Mottenschwarm flog durch den Kellergang, als Annabelle die namenlose unterirdische Wohnung abschlosz. Sie beschlosz, sich weitere Keller anzusehen.

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[1] Dieser Band existiert m.W. nicht.
[2] Vgl. FN 1
[3] Hier habe ich zitiert aus Band 15, Mitv – Noel, des dtv-Lexikons, Gütersloh/ München 2006, S. 100.
[4] Wikipedia-Eintrag Motte (Burg), abgerufen am 1.12.2019.
[5] Das grosse Hamburg-Buch, hg. Hamburger Abendblatt, Hamburg 2012, S. 682f.