Alltag

Arbeitstitel Herkunftsgeschichte

Tagsüber war es schon schwer genug, zu wissen, wer oder was in einem da gerade eine von den angeblich Fünfunddreiszigtausend Entscheidungen traf. Läppisch die meisten, klar, vorne oder hinten in den Bus einsteigen, die Strasze hier oder da überqueren. War das Nicht-Entscheiden da eigentlich schon eingepreist? Aber auf vollends unsicherem Terrain war sie nachts, hatte da offenbar gar nichts zu melden, unter der Oberhoheit der Träume wurde nächtlich ein fremdes Theaterstück in ihr aufgeführt, auf Haupt- und Probebühne und auch im Zuschauerraum. Letztens hatte sie ansehen müssen, wie Dutzende von Duplikate oder Klone von ihr im Parkett saszen.

Sieben Uhr, offizieller Tagesbeginn für Astrid, 37, abgebrochenes Studium der Psychologie. Augenblickliche Astrid-Freude auf die Sicherheit des allmorgendlichen Katzenfüttern-Kaffeekochen-Bad-Rituals. Behutsam, den schweren Nachtvorhang beiseite schieben.

Zuerst das Kätzchen versorgen. Heute schien es nachts nichts umgeworfen, verschleppt oder zerstört zu haben. Es schien milde gestimmt, begrüszte sie nicht mit einer Kratzattacke. Astrid hielt die kleine Tigerkätzin für das launischte Felis Catus Exemplar mindestens der Stadt. Im Tierheim hatte die kleine Zoe so einen freundlichen Eindruck gemacht. Doch jede Fundkatze war auch eine Black box. Eben das hatte Astrid wohl gereizt. Zum Glück hatte Zoe nichts am neuen Diätfutter auszusetzen.

Kaffebohnen in die Mühle löffeln. Bohnen aus Columbien, single origin. Besser für die Kaffeebauern, auf Direktimport und eben single origin zu achten. Auf der Packung das schwere deutsche Wort HERKUNFT. Es raunte sie an. Auch so ein Steckwort, am Schaft Kunft zu halten, mit dem Her herumfuchteln, achja, mit dem Her konnte mann auch fremde Länder überfallen. So war das also. Mal wieder Wortdomino spielen: Ursprung, Absprung, Hochsprung. Oder Weitsprung. Da fehlte doch das Bewegungselement.

Oder Ab- und Zukunft. Wer von den Jungen, sie war da drauszen, hoffte da momentan lauteren Herzens drauf? Ein Wort aus Astrids bedrohte-Wörter-Büchlein. Lauteren Herzens sein. Sie packte das Müsli und eine Banane für die Mittagspause. Mit dem Kaffee mit geschäumter Milch an den Tisch setzen. Zoe starrte sie vom Kochbuchregal aus an. Das Tier hatte lange keine Bücher mehr heruntergeworfen. Was würde Astrid heute erwarten? Diese letzte Woche vor der Uraufführung waren die reinsten Überraschungstüten. Langsam annähern, Blicke schweifen lassen, den Bus nehmen statt der U-Bahn. Die Sensationen des Gewöhnlichen aufnehmen. Da war zum Beispiel seit einiger Zeit neben dem Supermarkt, dritte Station von zuhause aus, ein Plakat, das behauptete „Zukunft braucht Herkunft“.

Hatte Katharina nicht neulich das gleiche verkündet, Katharina, die sich mehr und mehr zur Queen der Kalendersprüche und Empower-ment-Weisheiten, ja, was, mauserte, krönte, aufspielte? Katharina, hatte Astrid gefragt, bist Du jetzt eigentlich auch rechts? Der Abend endete in Miszstimmung und gegenseitigen Unterstellungen.

Sollte sie eine Entscheidung erwägen über einen Freundschafts-Schluszstrich? Was verband sie noch mit Katharina auszer der langen gemeinsamen Geschichte. Aber was hiesz hier „auszer“? Sie kannten sich dreiszig Jahre. Und Katharina war damals fast dabei, als ihre Eltern es ihr im Ton einer amtlichen Bekanntmachung verkündeten. Sie hatten sich nicht einmal hingesetzt dazu. Dadurch hatten sie Astrid auch den Fluchtweg versperrt, raus aus der Wohnküche mit der Eckbank und hinein in die Strasze mit dem putzigen Blumennamen.

Es war ein Tag vor ihrer Volljährigkeit und nun hielt sie gar nichts mehr in ihrer Herkunftsfamilie – die ja nun nicht mehr im vollen oder sollte man sagen genetischen Sinne ihre war. Ja, sie teilten ein Geheimnis, Katharina und sie. Und da wäre es gut zu wissen, wie ein solches wieder gelöscht werden könnte. Oder müszte man es herausoperieren wie eine Geschwulst? Einkapseln?

Wichtig war, vor dem Verlassen der Wohnung alles Katzen-sicher zu machen. Das Wegräumen von Requisiten war auch im Hinblick auf ihre freundliche und neugierige Nachbarin wichtig, die am Nachmittag immer mal mit Zoe spielte und den Napf auffüllte.

An der Bushaltestelle direkt vor ihrer Haustür war sie heute morgen die einzige Wartende. Gegenüber in zweiter Reihe hielt der Bus der Senioren-Tagespflege. Sie kannte die Dame mit Rollator, die sich dem Kleinbus im Schneckentempo näherte, mitten auf der Fahrbahn. „Hallo, Frau Kleinschmidt!“ Die Angesprochene wandte zeitlupig den Kopf, starrte sie an. Ein Blick, der von Ferne dem von Zoe ähnelte, es fehlte aber etwas.

Der noch fast leere Kleinbus verliesz mit Frau Kleinschmidt die Bühne. Astrids Bus kam. Vorne war ein Fensterplatz frei.

St. Marienkirche – Graues Kloster – Adenauer Brücke.

Wieder die Gedankenschleife Astrid-Freundschaft mit Aplomp beenden, wenn ja, auf welche Weise oder sich zurückziehen, also Muten, oder würde das schon den fluchwürdigen Tatbestand des Ghosten erfüllen?

Jetzt wäre gerade eines dieser Telefonmonologe hübsch gewesen, Berichte von Arztbesuchen, Partnergesprächen oder Meeting-Fazits, bei denen man, stieg die Person vor Beendigung des Gesprächs doch gern gewuszt hätte, wie es weitergegangen war. Nichts. Es war tatsächlich still, also Stadt-still im Gelenkbus mit ihrer Lieblingszahl. Am übernächsten Stop stieg wie fast jeden Morgen die elegante Lady mit den quengelnden Zwillingen ein. Wie immer mied sie jeden Blick-kontakt, mitleidige oder strenge Botschaften befürchtend. Sie schaute nie in ihr Handy.

Es belustigte Astrid, dasz das Plakat mit der Zukunfts-Herkunft-Weisheit überklebt war: „Zeit für einen Spurwechsel? Erfinden Sie sich neu bei uns!“ Das Regionalbahn-Unternehmen warb um Arbeitskräfte, Astrid konnte nicht erkennen, ob auch „Quereinsteiger“ willkommen gehieszen wurden und was an Einstiegsprämien versprochen wurde. Vorher hatte sie bei einem solchen Unternehmen gearbeitet, in dem mindestens einmal am Tag imperativisch die Rede vom Sich-Neu-Erfinden war und Astrid bald den Eindruck gewann, dasz die KollegInnen immer weniger da waren.

Kaiser Wilhelmplatz – Lämmermarkt – Kriegerdenkmal.

Auf die zum Glück selten vorkommende Frage, warum sie eigentlich ihr Studium nicht beendet hatte, gab es eine offizielle Antwort. Neulich hatte sie Mia, die ohnehin etwas distanzlose Praktikantin, erfolgreich damit abgespeist. Hinter dieser Curriculum-Vitae-Fassade wuszte Astrid es immer weniger. Es gab einen Zusammenhang mit ihrem letzten Seminar, wie hiesz das noch?

Als sie Kinder waren, hatten Katharina und sie sich ausgemalt, dasz sie als Babys Opfer einer Verwechslung gewesen seien und beide eigentlich in einer Jurte in der Mongolei oder in einem Palast in Frankreich hätten aufwachsen sollen. War jetzt sie oder war Katha zuerst auf diese Idee gekommen? Sie, Astrid hatte jedenfalls die meisten Details und erste Flucht- bzw. Reisepläne beisteuern können. Und war es später bei der Geschichte mit der Seelenwanderung nicht ebenso? Katha war die, die sich schnell orientierte in neuen Geschichten und Situationen, immer schon. Und sie, Astrid, trug die Beute heim, Beute aus Lesefrüchten oder fremden Geschichten.

Kinderklinik – Schillerstrasze – Technisches Rathaus.

Und nun nervte Katharina sie im Jahresrhythmus mit dem Vorschlag, nach ihren biologischen Eltern zu forschen. Da müsse doch da und da etwas zu finden sein. Jedesmal muszte Astrid grob werden. Sie hatte eine Grafik für sich dazu erstellt, die die verschiedenen Möglichkeiten farbig markierte und hinter Pfeilen hatte sie auch ihre emotionalen Zustände und ihre weiteren Schluszfolgerungen vermerkt.

Jetzt fiel ihr das mit dem letzten Seminar wieder ein. Es hatte mit ihrer Entscheidung zu tun, zunächst nicht mehr hinzugehen und sich dann trotz des vorteilhaften Status einer Studierenden abzumelden. Die damalige offizielle Version war die des intressanten Jobs mit Verant-wortungs- und Aufstiegschance. Es hiesz eben nicht Imposter-Syndrom, was ja Hochstapler bedeutet, sondern Münchhausen-, oder, in diesem Fall nach dem vorgeblichen KZ-Überlebenden Binjamin Wilkomirski, der eigentlich Bruno Doessekker hiesz, Wilkomirski-Syndrom. Doessekker-Wilkomirski war nicht der einzige, der sich eine jüdische Identität zugelegt hatte. Alles, was es über das Phänomen zu lesen gab, hatte Astrid verschlungen. Es war doch ein paradoxe Herkunftserschleichung, nicht vorzugeben Hauptmann, Zarentochter oder Oligarch zu sein, sondern sich auf die Opferseite rüber zu schleichen. Die Empörung im Seminar war grosz und ungewohnt, bei der letzten Sitzung ging es quasi über Tische und Bänke. Heftig wurde die Frage nach der Motivation der Journalisten, die die Camouflage aufgedeckt hatten, diskutiert.

Astrid sah sich im Traum mit bloszen Händen Wasser von einem Bottich in einen anderen schöpfen.

Gerade spürte sie eine Mischung aus altem Kaffee, Weichspüler und Asche im Nacken. Nicht umdrehen. Geruch aus der Blumensiedlung, neulich hatte sie gehört, dasz die meisten Häuser wegen Baufälligkeit abgerissen werden sollten.

Besser schon mal aufstehen: Rentenversicherungsanstalt – Stadttheater – Friedhof.

wiebke.johannsen@hamburg.de März 2025