Heimat

Statt Landflucht

* für Uta

Es war einmal. Es war einmal Stadtluft. Es war einmal Landlust. Es war einmal Gartenlaube. Es war einmal Landflucht. Es war einmal die Milchkanne am Straszenrand. Es war einmal Stadt und Land. Es war einmal der Gesindetisch. Das Rolltuch. Die Kaffeemühle. Das Weckglas. Es war einmal der Joghurt von Landliebe in Milchkannenform. Es war einmal Vintage und Landhausstil und Upcycling. Es war einmal Multitask, Burnout und Selbstoptimierung. Es war einmal Sport Utility Vehicle (dt. Geländelimousine) und zugenagelte Bahnhöfe und Anruf-Sammel-Verkehr. Es war Funkloch und Sommerfrische und der Überdrusz an Fleischskandalen. Sonntagsbraten war und Landgasthof und warum nicht selbst Ziegen halten. Stadt-Land ist Stadt-Rand und Anstatt-Land und ständiger Raum-Traum. Dreiundfünfzig Prozent der Deutschen würden gern auf dem Land leben. Die Auflage der Zeitschrift „Landlust“ liegt Ende 2014 bei über einer Million. Es war einmal die klappernde Mühle, der Dreschflegel, die Bäuerin in Tracht. Die Dorflinde, der Dorfschulze, die Dorfschule. Haufendorf, Straszendorf, Weiler, Angerdorf und Rundling, letztere sehr reizvoll. Neu und blosz wörtlich schön: Samtgemeinde. Kirche bleibt im Dorf, auch leer und zerfallen, die Landwirtschaft nicht. Ist es wahr mit Brauchtum, Sitte, Gesinde und Herrenhaus, war es wirklich? Es war ein Land mit Buchenwäldern und rotglühendem Buchweizen und blauen Flachsfeldern. Hier hinein schneidet eine grosze Schere, das Bild wird konserviert oder optimiert und ins Rabattbuch geklebt. Es gibt Nachlasz im Bio-Supermarkt. Bauerngarten, Kräutergarten, Wintergarten, Zwerge werden nicht geduldet. Es war einmal Scholle, Joch und Pflug. Virtuelle Geräte sollen die doppelt Landflüchtigen, erst fort, dann hin, erden, sollen sie in die Gnade der Bodenständigkeit versetzen.

Es war ist und wird sein die Unschuld vom Lande, und was kommt aus der Stadt? Loha heiszt Lifestyle of Health and Sustainability. Es war einmal viel Aufruf, Auswahl, Absatz: Simplify your life und go vegan und Regionale Produkte und vieles andere mehr. Es war einmal Verzicht und Bescheidenheit und abgetragene Kleidung. War Holzklauben und Kräutertrunk und Hexenwerk.  Es war einmal ein Hollerbusch. Der Hollerbusch ist Lebensbaum, in ihm wohnen die Hausgeister und so gilt unsere Sorge seinem Schutz. Verdorren kündigt groszes Unheil an. Der Hollerbusch, ital. Sambuco schenkt uns viele Getränke und Träume ein und wird gleich Schauplatz sein. Es war einmal ist unsere Rückhol-Formel. Es war einmal war auch einmal Titel der Zeitschrift „Landlust“.

Dem alten, sagen wir ur-alten Hollerbusch entgeht niemand und nichts. Unter seinem Geäst und Gezweig versammeln sich die Geister, von denen einige Kittelschürzen tragen. Sie alle tragen Stimmen auf wie Kleidung. Die Dolden des Strauches fangen die Reden der zuletzt Gekommenen auf.

„Endlich bin ich hier angekommen. Mein Traum ist wahr geworden. Endlich kann der Blick schweifen. Kann ich frei atmen. Und wie heiszt es so schön: Kann die Seele baumeln lassen. Und ich wohne zu ebener Erde, geht ja in der Stadt praktisch nicht. Ich werde mein eigenes Gemüse anbauen, ich werde zu meinem eigenen Rhythmus finden. Dasz Menschen übereinander wohnen und keinen Kontakt zum Boden haben, das kann doch nicht gesund sein. Früher sagte man: entfremdet. Spüre ich richtig, wie sich Puls und Herzschlag verlangsamt, wenn ich hier eintreffe. Wie einfach das geht, die vielbeschworene Entschleunigung. In dem Ort mit dem lustigen Namen – so sagen es meine Freunde. Die haben ja alle irgend so einen retreat, Laube-Liebe-Hoffnung oder Wochenendhäuschen. Oder mieten sich jedes Jahr die gleiche teure Hütte im öden Dänemark. Blosz, um dem Gebrumm und Gesumm der Groszstadt zu entfliehen. Aber WLAN hat’s ja auch überall. Musz ja auch.“

Trotzdem: Alle, die ein wenig bewuszter mit sich und ihrer Umwelt umgehen, haben diese Zerrissenheit gespürt. Noch nicht ganz da und schon wieder fort. Jede Woche ein kleiner Umzug. Jede Woche neu beginnen, versuchen, Wurzeln zu schlagen. Achja: Wurzeln, daher das Wort „radikal“ – die radikale Lösung habe ich gewählt. Mich ganz losgesagt vom Stadtdickicht. Heute morgen beim Laufen durch den Wald hab ich das erste Mal gesehn, dasz die Baumkronen mit Kohle in den grauen Himmel gezeichnet sind, das Rauschen der Wipfel, das aber kam aus dem Himmel selbst, es hüllte mich richtig ein. Jede Jahreszeit hat ihren Reiz, wie auch jedes Alter. Einen ganz anderen Zugang habe ich auch zu Materialien. Und ich meine nicht blosz Müllvermeidung damit, die ich natürlich praktiziere. Im Schuppen, den wir mitgekauft haben am Anfang des Jahres befand sich ja unglaublich viel Gerümpel. Also das war unser erster Ausruf. Tagelang inspizierten wir die Hinterlassenschaften des alten Ehepaars. Sie hatten ihre Kinder alle überlebt, die Enkel im Ausland und die Landwirtschaft hatten Sie schon vor dreiszig Jahren aufgeben müssen, sie haben von Grundsicherung aber ganz gut gelebt. Wir haben dann wirklich potentielle Schätze geborgen. Nur ein Beispiel: auf einem alten Leiterwagen lagen unter einer Plane Dutzende von Holz-Obstkisten. Alle mit wunderbarer Patina, ein paar hatten Schimmelflecken – ich habe einige noch etwas mit dem Sandstrahler nachbehandelt. Und dann haben wir die über so ein Country-Style-Portal als Garderoben vermarktet. Ich kam kaum mit dem Einpacken nach. Man musz ja nichts wegwerfen, wirklich nicht.

Was ich sonst noch für Pläne habe? Auf jeden Fall richte ich in der Scheune ein Café ein, mit Shop. Ein Buch will ich aber nicht schreiben, davon gibt es schon genug. Vielleicht kaufe ich mir zwei Esel, ich habe schon entsprechende Kontakte geknüpft. Auch ein Kindheitstraum. Für heute werde ich Weihnachtsschmuck für uns basteln, ähnlich dem, den ich an Restaurants und das Bio-Hotel im Landkreis ausgeliefert habe. Alles aus gefundenen Materialien. Sollen viele nachgefragt haben, von wem das ist. Wäre wohl jeder stolz drauf. Meine Idee war, in Kiefernzapfen, die sich auf dem Ofen ein wenig öffnen, flauschige weisze Samenstände der Waldrebe zu stecken. Wirkt wie frisch gefallener Schnee.“

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Die Chefredakteurin Flocking-Holzmeyer hatte den Hollerbusch von Totenbüttel selbst fotografiert und in den Konferenzsaal gehängt. Vis-á-vis hing das Smart-Board mit der TOP-Liste. Zu den Themen, die eventuell ins Heft sollten, gehörte Schnee, Arbeitstitel „Schnee von morgen“ und eine Story über einen Bodenkundler und Spatensammler. Fest eingeplant für die Dezember-Ausgabe waren hingegen die Kreativ-Seiten für den Weihnachtsschmuck und die wieder entdeckten Punsch-Rezepte.

Die Redaktion der Zeitschrift über die schönen Seiten des Landlebens redete sich die Köpfe über das Thema Schnee heisz. Da war die Kollegin Edelmeyer, die sich als Aufhänger eine alte Kinderbuchillustration der Frau Holle wünschte, deren Bettfedern auf der Welt zu einer Schneedecke wurden. Holle sei ursprünglich ein Beiname der germanischen Göttin Frigga gewesen, woraufhin der Kollege Johannßon sie mit seinem Werbegeschenk einer Traktorenfirma ausbremste, ein Aufsitzschneeräumgerät, kinderleicht zu bedienen, auch für kleine Flächen ideal, was die Kollegin Müller-Bodenstedt hinwiederum für die gleiche Geschichte vom August in hellweisz hielt und für eine, wie sie sagte, total abgefahrene Schneemann und Iglu-Geschichte mit echten Schnee-skulpturen von bekannten Künstlern und ganz einfach zum Nachbauen plädierte. Edelmeyer gab die Gefährlichkeit eines solchen Iglus und versicherungsrechtliche Grauzonen zu bedenken, während Flocking-Holzmeyer die gesamten Samenstände der Waldrebe aus den bereits abfotografierten Kiefernzapfen der Weihnachtsdeko herauspulte und nur ein Wort hervorstiesz: „Kittelschürze.“ Das sei alles „Kittelschürzen-Kappes“, völlig unkreativ und allenfalls für den Landfrauenverband von Interesse. Überflüssig zu sagen, dasz das Signalwort „Kittelschürze“ jede Diskussion beendete. Kollege Johannßon rettete Ruf und Gesicht, indem er auf die Wetterlage und die geringe Schneewahrscheinlichkeit in den kommenden Wochen hinwies.

Die Deko- und Rezeptseiten lagen in groszer Menge vor, es muszte hier lediglich eine Auswahl getroffen werden. Flocking-Holzmeyer motivierte die Kollegen mit erstens einem Apell an ihr Verantwortungsgefühl: Unsere Leser leisten viel und haben ein Recht darauf, in ihrer freien Zeit mit Bildern von schöner Natur und glücklichen Menschen verwöhnt zu werden. Und zweitens ist unser Job der anspruchsvollste von allen. Weil wir uns überhaupt nie wiederholen dürfen, deshalb muszte ich den Strohstern-Quatsch rausschmeiszen, ja, Weihnachten musz sich wiederholen, wir dürfen es nicht, weil wir zur Kreativität verdammt sind. Im Gegensatz zu anderen Blättern bekommen wir schlieszlich nichts von Nachrichtenagenturen oder Korrespondenten oder können aus anderen Zeitungen abschreiben. Was wir schaffen, schaffen wir ganz aus uns heraus! Und das haben wir im zuende gehenden Jahr ganz groszartig getan. Der Kollege Johannßon hatte damit begonnen, das Modell seines Aufsitzschneeräumers zu zerlegen. Die Kollegin Edelburger entkorkte den Holunderbeersaft und schenkte ihn in altmodische Kelchgläser, Flocking-Holzmeyer gosz mit deutschen Secco auf. Prächtig, goldfarben, was für ein Genusz – wenn man zu genieszen verstand.

An dem Hollerbusch waren die Jahrhunderte vorüber gezogen – was botanisch gesehen Unfug ist und hier nur für die Beständigkeit und Zeit-Resistenz des ländlichen Raumes steht. Wie schön, dasz der Hollerbusch sprechen kann! Über die Dolden empfängt der Busch die Stimmen der Landliebenden und über die verarbeiteten Früchte steht er in Kontakt mit allen Nutzgenieszerinnen und Genieszern. Die graubraune korkartige Borke ist Ohr und Auge und spricht:

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„Ich bin der Schönste im ganzen Landkreis! Mein Duft läszt sich nicht auf Flaschen ziehen. Meine Flieder-Farbe ist zum Flieder-Wort geworden und gefärbt haben die Menschen auch jahrhundertelang mit meinen Blüten. Aber auch heute habe ich viel, sehr viel zu tun. Ich bin trend, sagt man in allen Hofladen landauflandab. Bin ich auch froh, dasz ich den blöden kriecherischen Rhabarber abgelöst habe. Das ist ein Plus an Luft und an Freiheit. Jaja, die Landluft, gepriesen vieltausendfach. Ich blicke über Felder, Wälder und Luftkurorte und Windräder und Biogasanlagen und über die Redensarten in der Luft. Sie haben die Stadt gegen das Land getauscht, obwohl es immer weniger zu tauschen gibt. Die Luft verspräche Freiheit, sintemal die Luft der Stadt, aktuell die des Landes. Habe mich neulich mit der Journalistin mit dem Doppelnamen drüber unterhalten, mich stört das ja nicht, aber was heiszt stören, wir Bäume und Büsche fürchten die Axt und sonst nichts auf der Welt, also sie will jetzt was unternehmen gegen das Ausbringen der Gülle, das exzessive Ausbringen der Gülle sagte sie, die groszen Viehbetriebe würden ihre Exkremente regelrecht in der Landschaft verklappen und wer wolle da noch Urlaub machen, ihre Schwester hat ja hier ein Hotel. Von Nitrat und Nitrit plapperte sie noch. Ich spüre da nichts, wie gesagt, sehe es den Menschen aber an, ihre Besorgnis. Immerzu rennen sie von A nach B, vom Land in die Stadt und retour. Stadtluft, Landluft, Stadtliebe, Landliebe. Stadtdiebe, Landdiebe. Um nur mal frei zu assoziieren. Die Freiheit reicht mir ja aus, das finde ich jetzt lustig, jawohl. Vielleicht ein Thema für die Frau mit dem Doppelnamen und dem Leinenjanker, die sich immer so an mir reibt. Ich sei ihre Inspiration, ihre Kraftquelle. Wobei es ja bei uns ums Geistige geht. Für die breite Masse gesprochen: ich mache Euch gesund, sehr wahr. Vitamin C, Kalium und ätherische Öle, das habt Ihr ja schon herausgefunden. Ich verspreche es Euch.“

Der Sternenhimmel im Dezember wird vom Jäger Orion beherrscht. In der Stadt verdunkelt das Licht die Sterne, Lichtverschmutzung heiszt das. Nur auf dem Land, wo die Dorflaternen um zehn abgeschaltet werden und die einzelnen Lichtpunkte der Gehöfte und Einzelhäuser mit ihren Bewegungslichtquellen dazu einladen, sie zu Figuren zusammen zu malen, leuchten die Sterne. Der Hollerbusch im Zenit, darüber der Fuhrmann, links oberhalb die Zwillinge Castor und Pollux, links unten die beiden Hunde Sirus und Procyan, unten der Hase. Die weibliche Gestalt trug einen Kapuzen-Umhang, zu ihren Füszen hechelten zwei Hunde, aus deren Augen runde gelbe Feuer loderten. So wie die Sternbilder aus der Mythologie ans Firmament geworfen worden waren, die Bilder, nicht die Sterne selbst, so stammt die Gestalt aus einer Sagen- oder Märchenhaft und ist in die Realität geworfen worden. Sehr schön passen würde der Name DIANA, da sie heute auf der Jagd war. Im Dezember darf alles auszer Dachs und Rehbock erlegt werden. Diana war mit dem nachtblauen Nissan Navarra gekommen, um so wenig Aufsehen wie möglich in der jagdlichen Gesellschaft zu erregen.

Sie sprach die blumige Sprache der Jäger und hatte sich Einladungskarte und Vertrauen des Jagdpächters und Landrates erschlichen. Die Hunde der anderen Jäger warfen sich beim Anblick von Castor und Pollux sofort auf die Erde. Das Waidmannsglück war auf ihrer Seite, auf der Ladefläche des Pick-ups lagen sechs Hasen, die Ohren allesamt nach Osten zeigend.

Hier am Hollerbusch betrachtete Diana Orions Gürtelsterne und den feinen Orion-Nebel, das Schwert, das sie lange nicht mehr gesehen hatte. Die Hunde krochen unter ihren Mantel und atmeten hörbar aus, das einzige Geräusch in dieser klaren Nacht. Die Sterne ästen auf der Himmelsweide, die Sichel des Mondes passierte Mars und Neptun, auch das kam aus der Landwirtschaft. Diana hatte allen Grund, mit sich zufrieden zu sein. Sie hatte den Menschen durch den Landtrieb und den Landvertrieb einen neuen Zeitvertreib geschenkt, allgemein ein wenig Bewegung in ein Territorium mit sich auflösenden Grenzen gebracht und ganz nebenbei Absatzmärkte für Geräte, Gebinde und Gefährte geschaffen.

Dezember 2014