Anderswo

Weil

Bericht von einer Urlaubswoche im mecklenburgischen Boltenhagen – die Autorin weilte in einem „Resort“, genosz es. Und suchte doch nach Vergleichen, mehr noch Begründungen für ihr Tun, das Urlauben. Daher heiszt es “Weil“ − und das ist der Urgrund des Urlaubs.

Weil

Weil an der See wie Bergen an der See, oder wie Seebühl, Bühlsee. Weil in der Jetztzeit unter jedem Stein ein Zettel liegt, auf dem steht: darum. Weil die viele Eile verlangt nach einem Langen Weiler. Ein Weiler ist kleiner noch als ein Dorf und vereint in sich eine alte Zeit, ein Früher aus dem Film, wofür diese Landschaft die Location, Katzenkopfpflaster, Alleen, Staubstraszen, und eine Gegend, Gegend im Übermasz, Landschaft aus langwelligen mäszigen Höhen, Wald oder Getreide tragend. Das äuszerste ist, dasz sich ein blonder Acker, spät im Jahr noch nicht abgeerntet, fast ins Meer stürzt, Warnschilder fehlen nicht, Vorsicht, Abbruchkante. Lila Diesteln, gelbe Schafgarbe, Mohnblumenblätter blinken, Wasser und Luft bespiegeln sich, ein Kamm zieht weisze Strähnen durch sie. Unten ist es laut vom Wasser, ein nicht abschwellendes Brausen, unerträglich, wäre die Lärmquelle unsichtbar.
Abends ist die Stunde der Schwalben. Einige Meter des mehrere hundert Meter langen Firstes sind nicht mit Stacheln bewehrt, hier kleben ihre Nester, von denen aus sie in die Luft kritzeln, die Farbe ist abgeflossen, die Sonne ist ein Stöpsel. Am Horizont schwimmen Lichtpunkte.

Weil man hier nicht lebt

Weil man nicht hier lebt, weil man dies ja niemals könnte, flieht man hierher. Aus dem rechteckigen und hochaufgerichteten ins flache und lange. Und das hat man, es ist ein anderes man, hier richtig gemacht. Keine spanischen Bettenburgen, keine westerländischen Betonklötze. Der mehrere hundert Meter lange First, der, wenn auch mit Knicks, dem Bogen der Bucht folgt, gehört zu einem dreistöckigen Hotel, das landeinwärts Ecktürme zeigt, seeseitig Bäderarchitektur zitiert. Weil man hierhin flieht, vor wilden Tieren, Krieg und Pestilenz hat das Hotel einen Namen, der Dich schützt wie Wiege und Amulett zusammen: Resort. Vgl. Rescue, Rettung und Ressource. Auch: Ort. Ein Ort wie Weil, im Weil müszte es heiszen. Die Urlauberin sagt man, um das Ich zu schützen.

Zwischen Welt und Badebucht

Weil zwischen Welt und Badebucht der Badeort mit Resort ist, haben die Menschen, die es bis hierhin geschafft haben, ein Recht auf Regression. Im Sand spielen, Eis lutschen, Tretmobil und Gokart fahren, Kinderkleidung tragen, sich bei all dem ablichten. Langsam sein. Sich an den Händen halten, die man vom Körper weghält. Weil man sich das verdient hat. Verdienen die Einheimischen dran?
Die Abfolge der gewinnbringenden mecklenburgischen Institutionen: Gutshof, Gasthof, Resort. Lange gehörten Dörfer Familien. Langweilig ist hier jetzt alles Geldige. Langweilig ist hier jetzt alles Städtische und Herrschaftliche. Feiner die Unterschiede präsentieren. Gern gleichzeitig gleiche Dinge tun, einander nicht achtend.

Behausungen und Behältnisse

Weil das Groszthema Sicherheit ist, hat menschl. Erfindungsgeist eine Reihe von Behausungen und Behältnissen, zugeschnitten auf diese Ferienlandschaft ersonnen. Ein Strandkorb schützt, eine Strandmuschel schützt, ein Bademantel, hier sind alle weisz, ein Schirm, Wind, Wasser, Sonne, Sand, es ist dem Menschen in Wirklichkeit ein Grauen, schutzlos wie nach der Geburt, ausgesetzt sein auf mondartiger Fläche. Was auch noch seine Schutzgebiete, jeder panzerlose Mensch ein Schutzgebiet, umgiebt, rollt Mensch und Material, Koffer und Automobile. Auch schützen sie Schichten von Babyspeck, es schützt sie das flache Wasser, das die Proportionen aufhebt, Kinder und Nichtmehr-Kinder haben die gleiche Höhe. Der Burgenbau wird in dieser Saison nicht gepflegt.

Täuschen und Tricksen

Weil die Urlauberin vom tatsächlichen Erfinden las, das der hierorts geborene und in die Welt vertriebene Dichter erfand, kokettiert sie mit dem Erfinden des Tatsächlichen. Es verschwimmt wie die blauen Elemente, es ist etwas mehr Roman als Wirklichkeit, es ist der Name, auf dem Resort und Marina vor fünf Jahren gebaut wurden: Tarnewitz. Weil der Name an Polen, an Täuschen und Tricksen und an Netze erinnert. Weil der Name etwas ruft, das nicht kommt, die Katze Erinnerung vielleicht, schaut die Urlauberin in ein Buch zur Ortsge-schichte.

Reichsarbeitsdienst und Nationale Volksarmee

Weil zum Schutz oder Trutz die Menschen vor der Urlaubserfindungszeit noch gröszere Hüllen entwarfen, Nationen genannt. Weil der Zipfel im Norden von Tarnewitz aufgeschüttet wurde von dem Reichsarbeitsdienst der National-sozialisten. Weil er von der Nationalen Volksarmee weiter zum Krieg Üben benutzt wurde. Weil zum Bau des Resorts Baureste der Bucht rückgebaut wurden. Weil alle Mythen auch hier herumgereicht werden, die von geheimen Höhlen und Bunkern und die vom sagenhaften Schatz.

Vorsicht, nicht betreten

Weil es keinen Ort in Deutschland gibt, an dem nicht Zwangsarbeiter für die Kriegswirtschaft schafften. Weil die Kriegspieler ihre Sachen nicht mitnahmen, sie vielmehr einfach übernommen wurden, es heiszt, ein groszer Teil des Areals gehört jetzt der Familie, der der Jägermeister-Schnaps gehört, sind Zäune herum gezogen und stehen gelbe Warnschilder um die sicher zugewucherten Betonreste und Munitionsreste: Vorsicht, Kampfmittel, nicht betreten. Und: Naturschutzgebiet, nicht betreten. Als noch Nation statt Natur von hier aus geschützt werden sollte, war hier eine Erprobungsstelle für Bordwaffen der deutschen Luftwaffe.

Weil die urlaubenden Menschen mehr Geld oder Status als Zeit oder Freiheit haben, scheinen die meisten der weiszen Plastiksegelschiffe, innen die groszen, auszen die kleinen, beschäftigungslos in der Marina zu liegen. Morgens ist die Stunde der Möwen und alten Männern mit Hunden.

Ein Reich der Erwachsenen

Weil es auch ein Erwachsensein in naher gepflegter Umgebung gibt, Freizeit mit Erwachsensein und dies in dem historischen Behältnis des Gutshauses, folgt die suchende Urlauberin einem Wanderweg zu einem Gutshaus mit Hotelbetrieb. Wie gut: eine Figur vor einem Blatt scheint das Signet zu sein, davor „Bio-Hotels mit Sicherheit genießen“. Fürwahr, ein Reich der Erwachsenen. Erstens, weil die Menschen hier schlank und mit langen Hosen anzutreffen sind, zweitens, weil sie die Zentralbeschäftigung der Erwachsenen umtreibt: die Sorge. Sie sorgen sich um sich, sie fürchten ein Auseinanderbrechen von Fleisch und Nicht-Fleisch. Und irgendwo dazwischen steckt Gewissen. Der Haus-prospekt spricht mit zwei Zungen: „Wo die Seele lächelt“, verspricht „Geborgen“heit, dasz es „wichtig (sei), auf die innere Stimme zu hören. Aber gibt doch auch starke Hinweise auf die Komplexität des Themas Gesundheit: „Gesundheit bedeutet für uns nicht nur die Abwesenheit von Krankheit.“ Um dem Sicherheitsaspekt Gesundheit, immer geht es um das Eindringen von Fremden, wir müssen das nicht extra betonen, auf die Spur zu kommen, kann die Hotelgästin, es scheinen fast nur Gästinnen zu sein, unter vielen Diagnosemethoden wählen. Für die technisch interessierte mag das „Kirlianphoto“ infrage kommen: „Sekundenschnell zeichnet es Energie-abstrahlung von Fingern und Zehen auf.“ Der unabweisbare Vorteil: „Die Aufnahmen zeigen Störungen der einzelnen Organe an, lange bevor erste Symptome auftreten.“
In dieser Zeit leben. Vor allen Symptomen. Der Leib sei Dein Heiltum. Ist sie vorbei, können wir anal werden, zurückfallen in ältere Phasen – doch immer mit Ziel und Plan. „Wir empfehlen eine ausführliche Stuhldiagnostik, die wir mit Ihnen gemeinsam auswerten und anschließend einen Ernährungsplan erstellen.“ Die Männer haben lange Haare. Alle sind nett. Niemand ist fett. Alle sind bei sich und trinken vitalisiertes Wasser. Gespräche um Ernährung, nicht um Ausscheidung. Das Ende des Prospektes geht um die Historie. Man weisz schon: „Das Gutshaus ist das Herzstück des Hotels.“ Weil Zeit nicht vergehen soll, gibt es im Gutshofladen zum Nippes und den Öko-Cerealien undatierte Postkarten mit Erntearbeitern und mit Gutshoffamilienmitgliedern vor dem Gutshof. Angeblich sprach man im Dorf vom Schlosz. In den 1920er Jahren liesz es Familie X bauen.

Kein Krieg, keine DDR

Selbst in Mecklenburg gab es da schon keine Leibeigenschaft mehr. Die lange Dauer. In Zeit und Prospekt paszte daher kein Krieg und keine Deutsche Demokratische Republik. „Der erste Sohn kam 1944 zur Welt. Ein paar Monate später brach der Krieg in die Idylle des Klützer Winkels ein und Flüchtlings-ströme  aus dem Osten ergossen sich gegen Ende ins Land – auch ins Gutshaus, wo gerade die Taufe des Sohnes gefeiert wurde.“

Alles. Wieder. Gut.

Wie kurz, der Krieg. Wie gut, das Haus. Der Vater des Sohnes hat es vielleicht gar nicht mitbekommen, er war laut Hausprospekt Kapitänleutnant. Als nächstes gibt es den Osten nicht mehr und die Schwester des Knaben, der 1944 Täufling war, offenbar ist sie im Westen geboren, ist Heilpraktikerin und erwirbt Mitte der 1990er Jahre das Anwesen von der Treuhand. Jetzt ist alles wieder gut. Weil es vorher schlecht war, brauchen wir nicht darum zu wissen.

Weil die Urlauberin erst am letzten Abend Männer mit schwarzen T-Shirts sieht, auf denen Security steht. Weil sie behaarte Ohren und Nacken haben, zweifelt sie an deren Echtheit. Weil Erinnerungen an Urlaube das schönste sind. Weil die Menschen mit ihren Hunden sprechen wie mit ihresgleichen.