Melanie zog ein schwarzes T-Shirt aus der Oberbekleidungskiste ihrer Kammer. Gewesene Speisekammer. Melanie gewesene Sachbearbeiterin. Das schwarze T-Shirt ein Geschenk ihrer einstigen Abteilung, Branche Energiedienstleister.
Verdammt, es war ein Motto-T-Shirt. Vor dem Flurspiegel las sie netiebra thcin os nnak hci.
Netiebra Thcin – das klang hübsch. Wahrscheinlich der Name eines ranken Mädels mit rumänisch-vietnamesischen Wurzeln. Netiebra ein beliebter Vorname in der Bukowina. Doch Melanie fühlte sich bereits häszlich in ihr Büroarbeitsleben zurückkatapultiert. In diese Melange aus Gejammer und Mahlzeit-Rufen, Unter- und überforderung und täglicher Witzigkeit. Die Konkurrenz zwischen den Abteilungen nicht nur in Zahlen, sondern auch in Sachen: wer schickt das lustigste Filmchen herum oder haut den frechsten Spruch raus.

Null Spasz aber, wenn Kollege Schlanbusch statt seines Kaffeebechers mit „Machen ist wie wollen, nur krasser“ den von Kollegin Sauerbier mit „Ich habe keine Ahnung, ich arbeite nur hier“ benutzte.
Kein Becher-Text: „Kollegin Melanie M. verläszt uns auf eigenen Wunsch.“ Es war irgendwann egal gewesen, vielleicht würde sie es irgendwann selbst glauben. Waren immerhin 13 Jahre und es gab einen kleinen Ausstand mit Schnittchen und alkoholfreiem Sekt und einige Präsente in einem groszen Jutesack. Die Geschäftsführerin überreichte ihr ein schwarzes Couvert, das fühlte sich weich an und mit Goldstift hatten einige der Kollegen ihre Vornamen gekritzelt, jede und jeder in anderer Schreibrichtung. Und dann hatten alle gelacht, O-Ton Frau Behr: bestes Ascheimer-Lachen. Zuhause dann, in der halb leer geräumten Wohnung, in der Staub gewesenes gemeinsames Leben in Dingform nachzeichnete, gingen ihr die Kollegen-Sätze im Kopf herum wie Räder: Niemand hat das soo exaltiert gesagt wie Du, liebe Melanie. Ich musz immer an Dich denken, wenn ich den Ich-kann-so-nicht-Spruch höre! Recht hast Du gehabt, Melanie.
Sie konnte sich nicht erinnern, jemals den Satz „Ich kann so nicht arbeiten“ ausgerufen zu haben. Weder affektiert noch exaltiert, noch zitiert. Nein, nicht einmal das. Wobei sich in letzter Zeit die Unterstellungen häuften, diese und jenes habe sie gesagt, dieses und jenes unterlassenen.
Nun hatte sie heute, Dienstag und Ende August, zum ersten Mal dieses T-Shirt an. Jedenfalls zum Wetter paszte es.
Beim Aufbrühen des Tees kam ihr eine Idee. Das war doch das Angebot eines Versuchsaufbaus. Teil des Generalplans gegen die Langeweile, aus dem sie bereits das Bus-Roulette erfolgreich umgesetzt hatte. Einfach am Zentralen Omnibus-Bahnhof den nächsten abfahrenden Bus nehmen und erst an der Endhaltestelle aussteigen. Wie Reisen, nur krasser. Andererseits auch sicherer.

Sie würde sich mit dem T-Shirt – vor dem Spiegel posierend entdeckte sie, dasz der Aufdruck auf Brust und Rückenseite gedruckt war – an verschiedene Orte begeben, Orte mit arbeitenden und nicht-arbeitenden Menschen und arbeitenden, mit Alten, Jungen und Mittelalten und Reaktionen notieren. Sie übte das Posieren mit ihrer weisz-auf-schwarzen Botschaft. Nach dem Tee wollte sie starten. Erste Station: im Zuhause. Früher hatte sie es manchmal Homeoffice genannt. Während der Pandemie hatte niemand gefragt, ob sie so arbeiten könne. Das war eben so. Arbeiten ohne Arbeitszimmer, ohne geeignetes Büro-Mobiliar. Sie hätte den Arbeits-Satz damals zu Tom rufen können. Erinnern konnte sie sich nicht. Er verliesz zu unregelmäszigen Zeiten die gemeinsame Wohnung. Sonst sasz er mit riesigen Kopfhörern in einem thronartigen Drehstuhl, dessen Lehne ihn überragte im Wohnzimmer vor einem halbrunden Bildschirm. Ganz sicher hätte er im Rausgehen lässig „dann lasz es!“ gerufen. Hatten sie jemals über Arbeit gesprochen, also über Bedeutung oder Bedingungen? Tom schien seinen Job einerseits nebenbei zu erledigen, andererseits hatte er mit dem Gaming eine Art Berufung gefunden.
Es war nicht das einzige Rätsel, das sich zwischen ihnen ausbreitete wie ein Ölfleck. Der Satz verhielt sich gerade so ähnlich, er wucherte ein wenig.

An der Bushaltestelle zwei Straszen weiter war Melanie schon einige Male mit anderen Wartenden ins Gespräch gekommen. Unterwegs dahin eine Beobachtung, Top 1,5: mindestens fünf Leute mit Motto-T-Shirts und weitere mit groszen Brand-Name-Aufdrucken kreuzten Melanies Weg. Die erste Aussage las sie auf einem sie überholenden Rücken: The emotions you have ordered, are currently out of stock. Nach Gang und Hairstyling war die T-Shirt-Trägerin eine junge Frau. Doch die meisten Buchstaben-T-Shirts wurden von reiferen und übergewichtigen Männern spazieren geführt. Am Abend würde Melanie eine nicht-repräsentative Liste anlegen mit texilen Kalendersprüchen.
Die Hauptthemen waren Saufen (pro), Ficken (pro) und Faschismus (pro und contra). Melanie wollte das Phänomen auf einen Begriff bringen: dasz ihr jetzt plötzlich überall Motiv-Shirts begegneten, war Exempel eines Wahrnehmungs-Focus. Selektive Wahrnehmung. Einen schönen Begriff fand sie im Netz dafür. Frequenzillusion.
Position 2, die Haltestelle. Erste Reaktion: eine gleichaltrige Frau wandte sich ab, als sie den Ich-kann-so-nicht-Satz erkannte. Es sah nach einem Wiedererkennen aus. Der Versuch der Kontaktaufnahme scheiterte, da die von Melanie angesprochene das Smartfohn zückte und hektisch darauf herum wischte.
„Lies mich“ wollte Melanie rufen. Über Arbeit nachdenken ging irgendwie nur ohne Arbeit. Vom Wort selbst ging ein erdig-fauliger Geruch aus, ein Odem aus Blut und Moder, selbst dafür muszte man sich bücken. Sowas wie Mühsal und Plage war die Arbeits-Wortwurzel. Sie blickte sich um. Sahen hier nicht eigentlich alle geplagt aus?
Ernährten sich hier alle von ihrer Hände, Schultern, Knochen Arbeit, auf Knien in Staub oder Schlamm? Dann allerdings wäre ihr Ausruf müszig. Unverständlich. Zwei vor-pubertäre Jungs, die auf der Haltestellenbank rangelten guckten durch Melanies Shirt und ihren gesamten Leib hindurch.
Es hatte etwas von per Anhalter Fahren. Ihr wurde klar, dasz ihr Körper das einzusetzende Kapital war. Und dasz die Währung der Männer eine andere war. Sie lief vor zur Ampel, an der gerade zwei Rider warteten, Radfahrer mit groszen bunten Boxen auf Rücken und Gepäckträger, in denen sie wahrscheinlich bestellte kleinere Boxen mit Essen transportierten.
Erst als sie den Kurier ansprach, kam eine zögerliche Antwort. Eine sehr ernste Antwort unter zusammengekniffenen braunen Augen: „Egal, musz ich aber.“ Ampel auf Grün, schnell weiter. Auch bei der nächsten Rotphase wieder ein Food-Kurier. „Entschuldigen Sie bitte. Wie sind Ihre Arbeitsbedingungen?“
Erstaunte Mine unter dem bunten Helm. „Wie jetzt? Na, Mindestlohn, viel Stresz. Ganz wenig Trinkgeld, ich musz weiter.“ Das waren also 12,82 Euro. Das machte bei 40 Wochenstunden, was nur jung und kerngesund zu schaffen war weit unter 2.000 Euro. Melanie lernte: Arbeiten konnte man so. Leben wahrscheinlich nicht – jedenfalls nicht in dieser Stadt und nicht, wenn man noch Kinder oder andere Verpflichtungen hatte. Melanie erinnerte sich, wie anhaltend der Widerstand gegen diese Lohnuntergrenze war. Wie sehr sie eingriff in die Freiheit der Arbeitgeber. Und dasz der Mindestlohn Arbeitsplätze gefährde.

Position 3, das Stehcafé-Späti. Hier schienen zwei mittelalte Männer, nennen wir sie Torsten und Kai, auf Melanie gewartet zu haben. Vor ihnen halbvolle Kaffeebecher und zwei leere Kuchenteller. Der Pflaumenkuchen war in dem Sinne selbst gebacken, dasz er selbst aufgebacken war.
„Moin auch, geiler Spruch, sag ich auch immer …“.
„Alter, nur wenn Du nicht grad sagst: Bei der Arbeit. Und gelogen is ja beides.“
„Dachte schon, hier kann niemand lesen…“
Gemeinsames Lachen.
„Was meinste mit gelogen?“
„Du bist der Arbeit doch immer aus dem Weg gegangen …“
„Guck Dich doch mal an: Unterschied zwischen Holz und Dir?“
„Kenn ich. Holz arbeitet.“
Die beiden luden Melanie auf einen „echten Bohnencafé“ ein. Sie wollten offenbar nicht nur über Persönliches sprechen. Die Zeitung mit den Groszbuchstaben lieferte eine Anregung.
„Bürgergeld: die Wut vieler Deutscher ist verständlich.“
„Ach, die wollen doch gar nicht. Die meisten wollen doch gar nicht …“
„Nicht Dein Ernst!“
„Wer war das noch mit dem Freizeitpark Deutschland? Recht hat er gehabt!“
„Du machst doch Spasz! Ich sag Dir eins: sämtliche Naturgesetze sprechen gegen Arbeit“. Selten hatte jemand Anführungszeichen so rührend wie bildlich mitgesprochen. Melanie hielt den Camp-David-Sweater von Torsten für inkongruent mit dieser unerwartet anarchistischen Aussage. Kai: „Was meinste denn?“ „Na, die Schwerkraft vor allem.“

Position 4: hier schien sich wieder etwas hineinzumogeln in Melanies Versuchsreihe. Auf dem Weg in einen hochpreisiges Coffee Shop. Schrift sprach zu ihr. Ein immergültiger Spruch. Ein gröszerer Zusammenhang. Ein ganz kleiner Klebezettel, umgeben von Club-Stickern und Wohnungsgesuchen am Laternenmast. Der Urheber war angegeben. Hatte er selbst es angeklebt? Paulus? (2. Brief an die Thessalonicher, Kapitel 3, Vers 10)
Bibel also. Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen.
Melanie zog das T-Shirt aus und stopfte es in die nächste Mülltonne.

Zeichnungen: Birgit Kiupel

