Unter Tage

Doppelläufe

Wiebke Johannsen | Hamburg |Texte

Tintenklecksereien – Klecks auf Papier fallen lassen, den Bogen dann falzen und leicht andrücken, wieder öffnen und trocknen lassen – gehören zu den schönsten und einfachsten Bastelarbeiten. Mit das erste, das mir zum Thema DOPPELT einfiel.
War das nicht auch so eine psychologische Testmethode – Rorschach? Ja, war. Wird nicht mehr angewandt. In der Kunst und im Leben wird aber weitergekleckst.

Doppelläufe

Ein Spiel

Ein schäbiges Interieur, der hellgraue Resopal-Tisch mit dem Aufnahmegerät ist  voller Brandlöcher und halbrunder Flecken, von Kaffee-Bechern wahrscheinlich, die Polster der Stühle, deren Farbe an erbrochenen Spinat denken läszt, wellen sich wie altes Brot. Die Wände sind frisch gekalkt. Aus den hohen schmalen Fenstern des quadratischen Raums können nur grosze Männer schauen.

Eine Männerstimme kommentiert die Schäbigkeit der Szene: „Bestimmt nicht das Ritz. Reicht aber. Bitte nehmen Sie Platz!“
Es nimmt eine Frau Platz. Aus ihrer Bienenkorbfrisur fallen schwarze Flechten auf einen hellblauen Perlonpullover. Die Hände schiebt sie zwischen die Sitzlappen und ihren engen Rock: „Wann kommt denn endlich mein Anwalt?“

Der Mann wirkt ebenfalls übernächtigt. Er sitzt ihr gegenüber und öffnet eine Kunstledermappe, der er mehrere Graphiken entnimmt. Er legt der Frau eine vor. „Der Anwalt kommt zur rechten Zeit. Hier geht es nicht um die Vorkommnisse der vergangenen Nacht. Sie brauchen deshalb keinen Rechtsbeistand.“

Der Mann schaltet das Tonbandgerät ein und mustert die Stirn, die Augen, die Mundwinkel, den Hals, die Schultern, die Brust, die Knie, die Füsze der Frau, kleine Fleischfilets von hellblauem Lack gefaszt. Die Frau wendet den Blick von den Knien zu dem Farbgebilde auf der Tafel vor ihr. „Was ist denn das?“
Der Mann notiert eine Kleinigkeit in ein kleines schwarzes Büchlein.
„Das sollen Sie mir jetzt sagen! Ich zeige Ihnen jetzt zehn verschiedene Tintenkleckse und Sie sagen mir, was Ihnen dazu einfällt. Es gibt kein richtig und kein falsch. Sehen Sie es als ein Spiel an!“

„Musz ich das machen?“
Die Frau sieht den Abdruck ihres Geschlechtsteils, es ist zerrissen und blutig. Schwarzes Blut, rotes Blut. Sie sieht durch einen Strudel von Blut in einen weiszen Kegel, ein weiszer Baum aus einer Fenster-Dekoration, eine Rakete zum Mond, ein Papierflieger über ihrem Kindheitshimmel. Die Ränder des gedoppelten zweifarbigen Tintenkleckses abzulaufen, würde viele Stunden brauchen. Oben über der Klitoris erhebt sich ein Doppeladler, ein Doppel-drachen, eine doppelte Maul- und Klauenausstülpung.
Der Mann nickt und wiederholt die Aufforderung: „Sagen Sie mir, was Sie sehen, ganz spontan, ohne lang zu überlegen!“
„Ich sehe einen Schmetterling, ja, einen Schmetterling, er ist …“
„Ja, was ist er?“
„Ich glaube, er ist lebendig.“
Eine Notiz in das Buch, eine neue Tafel.

Der Mann geht planvoll vor, er folgte in allem der psychologischen Zusatzausbildung seiner Ausbildung zum Sergeant. Der Rohrschachtest war ein unersetzliches Mittel zur Auslotung der Persönlichkeit der Delinquenten. Denen wurden zehn vom Schweizer Psychologen Hermann Rohrschach (1884 – 1922) Anfang der 1920er Jahre entwickelten Tintenklecksarbeiten vorgelegt. Rohr-schach, den seine Freunde „Klecks“ nannten, hatte die Bilder an 300 Psychiatrie-Patienten und 100 Kontrollpersonen getestet. In die USA kam die Methode über exilierte europäische Seelenärzte und fand breite Resonanz in der Behandlung von Weltkriegs-traumatisierten GIs.

Die Frau weisz vermutlich nichts von dem. Zum ersten Mal fragt sie ein Mann nach ihren Assoziationen. Zum ersten Mal ist das Gesetz mit ihr in Konflikt gekommen. Zum ersten Mal ist alles offen.
Sie hat in dem Verhör, das kein Verhör ist, den besten und leichtesten Weg gewählt, der Sergeant könnte es „instinktiv“ nennen. Es hat sich erwiesen, dasz es den Probanden, vermeiden wir hier das harte „Delinquenten“, zum Nachteil gereicht, wenn sie ungewöhnliche und also abweichende Deutungen der Klecksographien nennen. Bilder von Tod, Sexualität, Gewalt. Klecks 1: eine Fledermaus, ein Schmetterling, eine Motte.

„Was sehen Sie hier?“ Der Sergeant musz übrigens auch notieren, wie lange die Testperson benötigt, ob sie die Tafeln dreht oder wendet.
Die Frau hat ein Gewicht auf der Brust, gleich produziert sie Wörter, die Gedanken laufen voraus. Das ist der Kopf von Dad, es ist ein doppelter Kopf, einer schaut zum Fenster hinaus, einer auf die kleine Sue-Ellen. Ein Kopf ist böse, einer freundlich, sie sind am Hinterkopf verbunden, es ist nicht zu sehen, ob sie imgrunde einer sind. „Das ist ein Berg.“ In einer Illustrierten hatte die Frau vor langer Zeit die Abbildung eines Doppelkopfes auf einer alten Münze gesehen, „römische Gottheit“ hatte darunter gestanden und sie hatte sehr lange draufgeschaut, um die Unterschiede der beiden Gesichter im Profil herauszufinden. „Janus“ lautete der Name und der Gott stand für Übergänge, der Name bedeutete im Lateinischen Tür. Eingang, Ausgang, Anfang und Ende also. Sie sah sich auf die Abbildung in der Illustrierten starren, immerzu die rechte und die linke Seite vergleichend. Und sie erinnerte die Verwunderung darüber, dasz es früher oder in Rom mehr als einen Gott gab und dieser noch überzählige Körperteile aufwies wie eine Miszgeburt. War das eigentlich eine Dreingabe, eine Prämie wie der Supermarkt sie für treue Kundinnen ausgab oder eher die Fortführung des menschlichen Körpers, der alles paarig und doppelt vorhielt: Augen, Ohren, Arme, Brüste, Beine?

Ob der Sergeant Janus kannte? Er kannte ihn auf jeden Fall in einem höheren Sinne, nicht als Gott und nicht als Ein- und Ausgang, eher als Alltag und Abgrund, das eine Gesicht, das die Leute, mit denen er es zu tun hatte, den Nachbarn zeigten und das andere, das Gesicht des Bösen. Sein Gesicht.

Das Spiel mit den Tinten-Dämonen, die durch Papierauflage und Fingerdruck gedoppelte Traumgestalt, der Zwillings-Klecks, hatte, neben allen Kindern, allen schmierenden und phantasierenden, der schwäbische Romantiker, Arzt und Autor Justinus Kerner (1786-1862) gespielt. Auch er fand einen Schmetterling; er liesz ihn aber flattern zwischen Larve (lat. eigentlich „Gespenst“) , Seele und Gott. „Aus Dintenfleken ganz gering/ entstand der schöne Schmetterling./ Zu solcher Wandlung ich empfehle/ Gott meine flekenvolle Seele.“
Der im Alter fast blinde Kerner machte aus den Tintensäuen, vermutlichen Tintenflecken durch Falzung und Kommentierung und Strichzeichnungen wunderliche Gebilde, Abbreviaturen behaglichen Unbehagens. Das freilich im Betrachten entsteht. Durch Kerner kam der Schweizer Rohrschach vom jenseitigen Ufer des schwäbischen Meeres zu den Tintentieren. Genormt und gedruckt reisen sie über das atlantische Meer und jetzt geht es um was. Wird aus jedem Spiel immer Ernst?

Nennen wir den Sergeant Ernst, engl. Earnest und spielen ein Biographie-Spiel. Jedes Leben läszt sich kippen, die Verdopplung zeigt die Kehrseite. Der ernste Sergeant hat einen lustigen Bruder. Oder, das greift tiefer und enthüllt die waltenden Urkräfte und Motive, der Sergeant hat einen eineiigen Zwillings-bruder, nennen wir ihn Bruce, der ein Säufer, ein Schläger, ein Tunichgut ist.
Ernst weisz es noch nicht lange, die Zwillinge wurden nach der Geburt getrennt und zu verschiedenen Adoptionseltern vermittelt. Der Stoff, aus dem antike Tragödien, Illustrierten-Reportagen und Forschung ist, Zwillingsforschung.
Bruce und Ernst haben das gleiche Erbgut. Den gleichen Doppelstrang der Desoxyribonukleinsäure, die Wendeltreppe, die im Chromosom gipfelt. Ernst kämpft für das Gute, Bruce ist Teil dessen, gegen das Ernst kämpft. Ernst erfuhr von seinem Bruder-Schatten, als er die amtlichen Papiere für seine Heirat zusammensuchte. Seine Eltern sind nicht seine Eltern. Seine Geschwister nicht seine Geschwister. Er ist ein Anderer. Es gibt einen anderen Er, der genau so aussieht, wie er, Ernst.

Dies ist ein ausgedachtes Beispiel in einem Spiel, bei dem es um Natur, Wahrheit und Sein geht. Mindestens. Was ist Prägung, was ist unveränderlich? Was ist erblich? Wann lohnt sich Bildung? Bruce-und-Ernst sind ein ausgedachter Beleg für den Einflusz der Umwelt, des Milieus. Bruce, der Zieh-Sohn des Gelegenheitsarbeiters und der Putzfrau, sie depressiv, er aggressiv. Der gute Ernst ein Lehrersohn, die Mutter liebevolle Hausfrau. Zum Beispiel.

Beispiele für das Gegenteil sammelte der britische Psychologe Cyril L. Burt (1883-1971). Der 1946 geadelte Wissenschaftler veröffentlichte 1966 eine Zwillings-Studie. Er hatte 53 getrennt aufgezogene Zwillingspaare untersucht und enorm grosze Übereinstimmungen z.B. in Bezug auf den IQ festgestellt. Schüler von ihm forderten daraufhin das Einstellen von Förderprogrammen für Schwarze und die freiwillige Sterilisation von Minderbegabten. Einige Jahre nach Burts Tod wurden erstmals Zweifel an der Echtheit der Burtschen Resultate laut. Die Korrelation erschien statistisch zu auffällig, die Zwillings-Zahl zu hoch, die genannten Mitarbeiterinnen lieszen sich nicht auffinden. Der Nachlasz des Forschers zerstreute die Zweifel nicht.

Gut möglich, dasz in den 1960er Jahren ein deutscher Wissenschaftler, damals Professor für Genetik und Leiter des Instituts für Humangenetik Münster, die gefälschten Fakten wahrnahm und bestimmt für wahr nahm. Prof. Otmar von Verschuer, Jahrgang 1896 hatte sich 1927 über Zwillingsforschung habilitiert. Seine Karriere verdankte der Mediziner seinem Fleisz, seinen Forschungsfragen und den Nationalsozialisten – 1935 wird von Verschuer Direktor des neugegründeten Instituts für Erbbiologie und Rassenhygiene in Frankfurt am Main und Richter am Erbgesundheitsgericht, das seit Juli 1933 über die Unfruchtbarmachung von Menschen entscheidet.
Verschuer erfaszt alle Zwillinge in Oberhessen und qualifiziert nahezu alle Krankheiten als erbbedingt. Verschuer 1935 in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Der Erbarzt“: „Der Führer ist … der erste Staatsmann, der die Erkenntnisse der Erbbiologie und Rassenhygiene zu einem bedeutenden Prinzip der Staatsführung gemacht hat.“ Ab 1936 sitzt er im Beirat der „Forschungsabteilung Judenfrage“ des „Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschland.“ Wissenschaft des Antisemitismus. 1942 Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts (heute Max-Planck-Institut). Er bleibt in Berlin, sein Assistent Josef Mengele, Jahrgang 1911, der 1938 bei ihm promoviert, forscht ab Mai 1943 in Auschwitz II (Birkenau) und schickt Präparate und Skelette nach Berlin, von wo er die Fragebögen erhält. Bessere Forschungsbedingungen sind kaum denkbar, namentlich für die Zwillingsforschung. Allein aus den Ungarntransporten sind es 250 Paare. „Zwillinge und Zwerge raus!“ hiesz es an der Rampe. Block 31 wird zum „Zwillingsblock“, die Mehrlinge zu „Kaninchen“. Er vermiszt sie komplett, er infiziert sie mit Typhus, er näht sie zusammen, stirbt das eine Versuchsobjekt, läszt er auch das andere töten – er tötet aber auch selbst, mehrere hundert Zwillinge, viele tausend andere – beim Obduzieren und Herstellen der Präparate helfen ihm ins Lager verschleppte Ärzte und Ärztinnen. Auch er plant eine Habilitation zur Zwillingsforschung, zum Zwecke der Beweislegung der Ungleichheit der Menschen über ihre Gleichheit.

Sehen wir Verschuer und den 15 Jahre jüngeren Mengele als Traumpaar und Auschwitz als „Traumort der Forschung“ (Ernst Klee), so verkörpern sie in der Nachkriegszeit perfekt das Doppelgesicht der Wissenschaft. Ein Doppelbildnis, an dem viel modelliert wird. Verschuer ist wohl reputiert und finanziert, er entlastet seinen untergetauchten Juniorpartner, über dessen Arbeit in A. nur bekannt sei, „dasz er sich bemüht hat, den Kranken ein Arzt und Helfer zu sein“. Desto länger nach Mengele, der 1979 in Brasilien starb, gesucht wird, macht der Karriere als Ausgeburt des Bösen, als Bestie in Menschengestalt, als „Todesengel“ – ein Januswort. Mengele ist überall, er war überall, er geht um wie der fliegende Holländer, er ist die Endlagerstätte der getanen und abgetanen Verbrechen, damit Forschungsreaktoren und Vergessensgeneratoren weiterlaufen.

Der Sergeant schlieszt die Mappe mit den Tintenklecksen, schaltet das Tonbandgerät aus und steckt das Notizbuch in das billige Sakko.
„Kann es sein, dasz Sie diesen Test schon einmal gemacht haben?“
Er ist aufgestanden, sie sackt in diesem Moment ein wenig zusammen.
„Weil Sie, weil Sie so schnell geantwortet haben. Und weil Ihre Antworten so, so, ich darf Ihnen das gar nicht sagen, … die Assoziationen lagen in auffälliger Weise im mittleren Bereich.“
Tafel Nummer 6 existierte als körperloser Abdruck hinter ihrer Netzhaut, sie hatte ein ausblutendes Rind gesehen, das seinen Kopf erhob, sie hatte gegen das Aufblitzen der Erinnerung an einen Fleck auf dem weissen Teppich angekämpft, den sie auch real beseitigt hatte oder doch zumindest fast und angegeben, sie sähe die Krone einer Prinzessin und einen groszen Stein, vielleicht aber auch nur einen Stein.

Der Sergeant schwankte zwischen dem Gefühl des Getäuschtseins und der Befriedigung – die kleine Frau konnte unmöglich alleine die Tat begangen haben. Andererseits: Trotz aller modernen Verfahren und seiner groszen Erfahrung, hineinsehen konnte man nicht in die Menschen.
Die Delinquentin schwankte zwischen Hoffnung und Nicht-Hoffnung. Es gab kein Andererseits für sie. Ob der Anwalt bald kam und ob er sie auch zunächst testen würde?

Was wäre, wenn der es Sergeant machen müszte, wenn er den Test gemacht hätte, bevor er ihn anwandte, bevor er irgendetwas über Rohrschach gewuszt hätte? Hätte er den See seiner Kindheit, Rohrkolben oder Rohrstöcke, hätte er eine doppelte Plazenta erkannt? Oder hätte er, nicht-wissend, in seine Zukunft sehen können?

Wer könnte in den Farbwolken Silhouetten von Baracken und Sektionssälen sehen, wer den Ehrgeiz und die Utopien der Handelnden?

Justinus Kerner und Hermann Rohrschach, der Romantiker und der Seelenarzt sind auf einem Tintenblatt vereint, die Hinterköpfe rund wie Mondsicheln. Zu den zehn standardisierten Tafeln ist abschlieszend zu sagen, dasz der kanadische Arzt James Heilman 2009 den Test inklusive der häufigsten Antworten auf Wikipedia online stellte.

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Wiebke Johannsen, 2. Januar 2012, geschrieben für den 1. Doppelt-Salong im Haus 3