Alltag, Anderswo, Entdeckerinnen

CI 77019 – Mica, deutsch Glitzer

Es war einmal eine sehr schöne Frau. Es war einmal eine sehr schöne Frau, die eine Göttin war. Sie kam nackt zur Welt, wie ein Mensch. Einen Namen hatte sie auch noch nicht.

Zu Beginn ihrer Laufbahn brauchte sie also Kleid und Namen.

Sie sasz am Ufer des Meers auf einem Fels und sann. Der Name Micha flog ihr zu. Schön war der Klang und schön war die Bedeutung: wer-ist-wie-Gott hiesz die Langversion.

Ihr Kleid würde sie erst zu einer geachteten und bewunderten Göttin machen.

Der Felsbrocken, auf dem sie sasz, war aus Granit. Weil Micha eine Göttin war, und weil sie deshalb natürlich nicht nur war, sondern ist, und sein wird, also weil sie eine Göttin war, verfügte sie über Abiturwissen in allen Schul-Fächern und über eine profunde Allgemeinbildung. Zweifellos war es Granit, grobkörnig, schwarz-weisz, ein magmatisches Tiefengestein und über alle Steine führte die Eselsbrücke: „Feldspat, Quarz und Glimmer, das vergesz ich nimmer.“ Und schon fiel ein Sonnenstrahl auf die Glitzer-Glimmer-Flitter-Anteile des Steins. Als wolle der Stein sich zur Sonne erheben, leicht sein, mit ihr davonfliegen.

Stattdessen kam aber eine Frau den Strand entlanggeschritten, ja, sie schritt. In der Hand hatte sie einen kleinen Hammer mit einem spitzen Ende und einen Rucksack auf dem Rücken. Im Näherkommen entledigte sie sich ihrer sportlichen Bekleidung und setzte sich neben die erfreute Göttin.

„Ich bin Lou, ich studiere Geologie. Du hast Dich doch gerade gefragt, wieso der Stein glimmert – Feldspat, Quarz und Glimmer, das vergesz ich nimmer.“

Ganz arglos sprach die junge Frau die noch junge Göttin an. „Richtig. Ich habe mich gerade Micha genannt. Bitte nenne mich auch so!“

„Entstammst Du dem Meer, wie Aphrodite?“

„Schwer zu sagen. Nicht mehr, als alle Menschen. Lasz uns über das Glänzende sprechen …“

Micha und Lou vertieften sich in Gesteinskunde, Entstehung, Arten, Vorkommen von Granit, Feldspat, Quarz und Glimmer, etc., was uns hier nicht weiter interessieren soll. Im Gespräch wurde die Welt weit und hell. Die Wolken, die brav wie eine Perlenkette über den Himmel gezogen waren, rissen sich los und die Sonne überglänzte die See und verwandelte sie in einen funkelnden Teppich. Dies nun bedeutete Micha, sich in den Widerschein der Sonne auf dem Wasser, mit den eingeschlossenen Glimmer-Teilchen der Erdkruste einzukleiden. Sie erhob sich, griff nach dem Glitzer-Meer und zog es sich an. Es paszte perfekt.

In einigen Stunden kamen die blinkenden Sterne hinzu, die sie sich zu einer Krone flocht und ihrem Göttinnen-Sein den letzten Schliff gab. (Da war Lou schon wieder in ihrer Jugendherberge, träumte aber alles zeitgleich mit.)

Zu Micha gesellten sich bald Mitgeschöpfe, die sich ihr verbunden fühlten.

Abbildungen zeigten sie bald mit einer kleinen Meerjungfrau zu ihren Füszen, in deren Schuppenschwanz sich ebenso glänzend das Licht brach. Die beiden verstanden sich wortlos.

Ein humpelndes Einhorn bat um Aufnahme, es litt unter der Überlast von Kunst-Glitzer, mit dem es beschmiert worden war. Die Schneekönigin reiste mit ihrem Schnee-Flocken-Schlitten an, Eisblumen überreichte sie ihrer Freundin. Micha schätzte ihre Gesellschaft, suchte aber immer nach Ausflüchten, wenn ihr Besuch mit mir Eiszapfen-Mikado spielen wollte. Das Zuschauen aber unterhielt sie bestens.

Bald bezogen Micha und ihr Team ein Bergschlosz im Sellrain, nahe den Ötztaler Alpen. Der Glanz ihres Gewandes und ihrer Persönlichkeit strahlte und lockte BesucherInnen aus aller Welt an. Eines Tages kam ein Schwarm Elstern angeflattert. Keckernd und Schackernd stellten sie sich als eine Abordnung vor, die sich in Micha eine Fürsprecherin erhofften. Den klugen Rabenvögeln mit den irisierend grünen und blauen Federn im Kleid wurde allerhand Unsinniges und vor allem Ehrabschneidendes unterstellt. Dasz einigen Orts davon ausgegangen wurde, die schwarz-weisz-bunten Allesfresser könnten sich in Menschen verwandeln, zweifelten die Tiere nicht an. Entschieden vorgehen wollten sie aber mit Unterstützung der Funkelnden Göttin gegen die Mär, Elstern seien „diebisch“ und sie hätten es besonders auf metallisch-glänzendes abgesehen, das sie entwendeten, um damit ihre Nester zu verschönern.

Nein, sie fühlten sich nicht von Michas Glanz angezogen, respektvoll verharrten sie und brachten ihr Anliegen vor. Die verstand nicht gleich, warum die Tiere sich am Gerede der Menschen störten. Sofort aber erkannte sie, was wohl der Anlasz für die schimpflichen Unterstellungen war: neugierig, wiszbegierig waren sie – und sie versteckten Nahrung und auch Spielzeug. Das war es, was die um ihren Besitz besorgten Menschen miszinterpretierten. Und so projizierten sie einmal mehr ihre Glitzersucht auf andere Wesen.

Fortan blieben immer einige kluge Elstern bei Micha und berieten sie in ökonomischen und ornithologischen Fragen.

Micha liesz Artikel und TV-Beiträge lancieren, die längst in Experimenten gewonnene Erkenntnisse über das wirkliche Elstern-Verhalten verbreiteten. Micha hatte gleich zu Bedenken gegeben, dasz die vertrauten Märchen, dasz das liebgewonnene Klischee die Wahrheit übertrumpfen würde.

Mit der Zeit änderte sich die Glitzerbedürftigkeit der Menschen. Einhorn und Meerjungfrau war es zuerst aufgefallen, da sie mehr in den sozialen Medien zuhause waren.

Immer gab es Ereignisse, die oberflächlich gesehen, dagegen sprachen: so schlosz kürzlich eine Fabrik in Deutschland, die Imitationen von Eiszapfen herstellten, zu hängen über Nadelbäumchen in Wohnzimmern zum Jahresende, zur Zeit der Wintersonnenwende. Die dünnen glänzenden Streifen waren früher aus Blei und Zinn, heute ist es meist aluminium-bedampfter Kunststoff. Sondermüll auch das. Wahrscheinlich, weil das sog. Lametta schon im 17. Jahrhundert erfunden wurde, gab es bei der Lametta-Fabrik-Schlieszung viel Medienecho. Grösztenteils wurde eine schönere gleich glänzendere Vergangenheit imaginiert.

Glitzerbedürftigkeit liesz sich in Zyklen abbilden. Das entsprach Michas Ansicht. In den alten Zeiten, als zwischen zwei Deutschländern noch eine Betonmauer stand, die auf einer Seite bunt bemalt war und jung sein wollende Leute aller Geschlechter sich buntglänzenden Flitter aus der Tube in die Gesichter schminkten, gewann Micha den Eindruck dasz es darum ging: die Leute auf der unbemalten Mauer-Seite wollten Glitzer, nichts sonst. Und es gab auch dort Pailletten und Straszsteine und weitere Attrappen zum Aufnähen. Die 1980er Jahre erinnerten sie so an die 1920er Jahre. Aber ging es den Leuten nicht viel besser, warum sehnten sie sich so sehr nach dem gleisnerischen Glanz? Die Meerjungfrau sah die enge Verbindung zwischen Angstatmosphäre, Gefährdungsgefühl, Krisenkater, etc.pp. und dem Bedürfnis, nach der Glitzer-streudose zu greifen, und alles zu überpudern.

Das leidgeprüfte Einhorn wies darauf hin, dasz jedes Glitzermaterial eine grosze Problematik mitbringt. Meist ist das Ausgangsmaterial PET und also Erdöl und die Teilchen werden zu Mikroplastik und das ist nicht mehr loszuwerden. Auch, wenn es längst nicht mehr glitzert. Die Meerjungfrau muszte das bestätigen, in ihrem Habitat würde immer alles landen, Abflusz runter, aus dem Sinn. Und die bestenfalls nachgeordneten Kläranlagen lieszen die kleinen Partikel meist durch.

Sie selbst wolle nicht wissen – und Einhorn und Elstern und auch Micha pflichteten ihr bei.

Ab und an kam die inzwischen freischaffende Geologin Lou auf Kurzbesuch. Im Gepäck hatte sie Nachrichten von Bürgerrechtsbewegungen überall auf der Welt.

„Micha, Glitzer ist politisch!“ „Lou, was denn auch sonst?“ Sie faszten sich bei den Händen und ergingen sich ein wenig auf der Schlosz-Terrasse. Am Bach blühten Alpenrosen, ausgedehnt die Steinflächen aus Gneis und Glimmerschiefer, darunter auch weisze Quarzbrocken. An geschützten Stellen Moos-Steinbrech und Taubensteinbrech.

Lou kam gerade aus Mexiko zurück, wo Frauen mit Glitzer-Attacken, in denen sie Politiker mit Glitzer bewerfen, öffentlichkeitswirksam protestieren. Es macht die Männer extrem nervös. Lou sprach mit Aktivistinnen, die es so kommentierten: Glitzern, das sollen wir Frauen immer, süsz, sauber, niedlich. Wir nehmen es an und schleudern es dem Patriarchat entgegen, das heiszt: wir sagen Nein, wir spielen nicht mehr mit.

In ganz Lateinamerika protestieren Frau mit „Marea Verde“, der grünen Welle aus grünem Glitzer gegen Abtreibungsverbote. Es sind machtvolle und fröhliche Manifestationen weiblicher Selbstbestimmung – so berichtet Lou. Übrigens experimentierten die Frauen mit gefärbtem Zucker.

Micha setzte sich auf die Mauer zum Tal, griff in die Luft nach einer Schere und schnitt einen Hand-breiten Saum von ihrem Meeresglitzer-Kleid ab. „Hier, Lou, gibt das bitte den Frauen in Mexiko. Sie sollen es in eine Wasserschale geben – und innerhalb von einer Nacht wird der Stoff sich verhundertfacht haben. Und jedes abgetrennte Stück hat die Fähigkeit, das ebenfalls zu tun. Und niemals wird es ihnen an echtem Glitzer mangeln!“

Lou bedankte sich mit einer Umarmung, verwahrte den Stoff sorgsam und meinte noch, dasz der nun kürzere Saum glücklicherweise mehr von ihren schönen Beinen zeigte.

Micha wollte wissen, woraus der gängige Menschen-Glitter bestand. Sie schickte ein paar vertraute Rabenvögel, die von ihrem Teller picken durften, mit dem Auftrag los, herauszufinden, wo überall der reflektierende auch bunte Stoff sich fände und was der Ursprung sei. Nein, nicht stehlen, nur ausleihen sollten sie. Weiter wollte Micha wissen, was es mit „bio-Glitzer“ eigentlich auf sich hätte. Das muszte doch eine freche Usurpation sein, schlieszlich war nur ihr Glitzern ein biologisches und echtes.

Tage später war der Himmel schwarz von berichtenden schwarz-weiszen Vögeln. Es waren so viele, weil jedes Tier nur ein Produkt mitbrachte, bzw. die Information, in welchem Produkt Glitzer drinsteckte.

Es überraschte die doch vielwissende Micha, in wie vielen modernen Menschen-produkten Glimmer von auszen unsichtbar verarbeitet war: da war vom Toaster über das Smartfohn bis zum Lichtschalter fast jedes Elektro-Produkt dabei. Ferner Gipsplatten, Fugenmasse, Autolack. Es hing u.A. mit der hohen Temperatur-Beständigkeit von Glitzer zusammen.

Aus hundert Vogelschnäbeln wurde Micha auf ihren Schreibtisch Tuben, Tigel und Töpfchen geschleudert. Zahnpasta, Lidschatten und Lippenstift, Gesichtskrem und vieles andere mehr enthielten die kleinen Behältnisse. Mit Schnäbelhieben hatten sie auf den Packungen markiert: C.I. 77019. C.I. war die Abkürzung für Colour Index. Siebensiebennulleinsneun bedeutete Glimmer, englisch Mica.

Das waren fast 40 Mineralienarten. Mica, wie es zumeist genannt wurde, was Micha bislang unbekannt war, war ein gut spaltbares glänzendes Schichtsilikat. (Auch Quarz und Feldspat war ja Silikat-Mineral.)

Abbau in Indien, China, Russland, Zentral- und Südafrika. Mühsam, gesundheits-schädlich.

Lou kam, um Micha Genaueres über die Abbaumethoden von Mica im Norden Indiens zu berichten. Ein groszer Teil des „echten Glimmers“ kam aus den ärmsten nordindischen Regionen Jharkhand und Bihar. Anstatt in die Schule zu gehen, müssen Kinder dort unter groszen Gefahren in offiziell geschlossenen Minen Mica abbauen, das später von Frauen kleingehackt und von Zwischenhändlern mit 1000 fachem Gewinn über den Hafen von Kalkutta weiter verkauft wird. Wieviele Kinder sind es? Lou hörte vor Ort von über 20.000 Kindern, offiziell wird alles geleugnet.

Verkäufer dieses Mica können in Deutschland doch tatsächlich „bio“ auf ihre Packungen drucken. Nein, das war unerträglich.

Das natürliche Mica war begehrter als das künstlich hergestellte – welches wiederum farbstärker sein kann. „Nein, Lou, diese Feinheiten interessieren mich jetzt nicht.“

Zeit, zu handeln.

Und so sprach die Göttin Micha, natürlicherweise für das natürliche Mica zuständig, ihren stärksten Zauberspruch. Sie trug ihn eingerollt auf einem Los-ähnlichen Papier in einem Seitentäschchen. Und indem sie ihn langsam sprach, passierte auf der Welt unten ganz schnell, was so lange nicht gelingen wollte: es war nun in Kraft ein wirksames Lieferkettengesetz, gültig ohne Ausnahme und ohne Frist, Sanktionen-bewehrt und Umwelt- und Menschenrechte überall durchsetztend.

Die Kinder überall auf der Welt gingen in die Schule und ihre Eltern fanden fair bezahlte Anstellungen in gesicherten neuen Minen.

So geschah es. Und niemand ist gestorben und Micha sah, dasz es gut war.

Achja: die Kinder gingen gern in diese neuen Schulen.

Zeichnungen: Birgit Kiupel