(Feministische Kurzprosa)
Annabelle von Bredow, die wirklich mit einem ihrer sehr zahlreichen Vornamen Annabelle hiesz, blond, schlank, langbeinig und jünger aussehend, hatte in dieser Aktion, Arbeitstitel „Kommando Walburga“ zum allerersten Mal ihr Herkunfts- und biologisches Kapital marktvernünftig einsetzen können. Einstimmig hatte das Kollektiv „Die Spaszbefreiten“ beschlossen, dasz Annabelle diesmal Gesicht und Zentraleinheit der Aktion sein sollte. Weniger einstimmige Zustimmung fand der Arbeitstitel „Arbeitstitel: Kommando Walburga“ – zuviel Hallraum, zuviel „natürlich darf geschossen werden“ und Entmenschlichung des Gegners. So hatten die Genossinnen meist nur das erste und das letzte Wort genannt: Arbeitstitel Walburga. Ina hatte das Kürzel AKW in Umlauf gebracht, das auch seine Liebhaberinnen fand.
Annabelle befand sich seit gestern auf einer Insel, deren Namen hier aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden kann. Von hier aus war sie mit allen modernen Mitteln der Telekommunikation inklusive Drohnen-Kamera-Über-tragung in Echtzeit mit den Schauplätzen verbunden. Die Show, bzw. der Main-Act würde in wenigen Minuten beginnen. Wichtiger noch als der Aktionsname war allen Frauen der Begriff gewesen, unter dem sie agierten. Was wollten sie? Wollten sie Kapern, wollten sie die Party kapern? Aber Piraten-Assoziationen waren zu maskulinistisch, allenfalls auf Kapernfahrt, Jäckies Vorschlag, wollten sie gehen. War es ein Umschreiben, ein Überschreiben des kommerziell vernutzten Ereignisses? Eine Umwertung? Das klang nach Nietzsche. Eine Wende, das klang reaktionär. Eine Neubewertung? Ein Umrubeln, weg vom Umjubeln? Wiedervorlage hatte viele Fürsprecherinnen.
Ebenso wie Transformation oder Verwandlung. Geschichtsangleichung stiesz hingegen auf Unverständnis. Aber ein Werk der Transformation war es zweifellos. Charmant war der Begriff auch, weil er an das anknüpfte, was den ermordeten Frauen zur Last gelegt wurde: dasz sie im Rahmen des Schadenzaubers Menschen in Tiere und Tiere in menschenähnliche Gestalten verwandeln konnten. Von den fünf Hauptanklagepunkten hatten die Ankläger der zumeist weltlichen Gerichte in zwei Punkte eine männliche Hauptperson hineineskamotiert, jemanden unan-klagbares, Unverfügbaren – den Teufel. Die Teufelsbuhlschaft und der Teufelspakt, der Hexensabbat und der Hexenflug. Und fünftens der erwähnte Schadenszauber.
Zweifellos ging es beim Verbrechen der Hexenverfolgung in Europa um die Erfindung von Kriminalität. Die Erfinder gingen umsichtig und gründlich zu Werke. Es brauchte Motive, wie die Bosheit des Weibes, es brauchte Initiatoren, das muszte der männlich imaginierte Teufel sein. Und es brauchte Orte, Versammlungsorte, an denen die Verbrecherinnen ihre hochärgerlichen Bündnisse im Geheimen schmiedeten. Bei diesen Versammlungsorte dachten alle Spaszbefreiten immer wieder an Sammelplätze, festgelegt von den Verfolgern, die es ihnen erleichterte, die zu Feinden erklärten auszusondern. Denkbar wäre von dort auch der Abtransport – Assoziationen, die in späteren Jahrhunderten vorkamen.
Die Feierlichkeiten in allen fünf Hauptorten des Harzes begannen genau gleichzeitig und sie begannen mit Bloody Mary von Lady Gaga.
Die Schweigeminuten boten Annabelle von Bredow und bieten uns Gelegenheit, die Vor- und Frühgeschichte des Transformationsgeschehens zu erinnern.
Den Anstosz hatten Azra und Pinar gegeben, die nach einer Harz-Exkursion im Rahmen ihres Geographie-Studiums von dem touristischen Groszevent „Walpur-gisnacht“ berichteten. Party, Musical und Mittelaltermarkt. Talmi, billige Kostüme aus China, Konsum-Terror. Ein Bullshit-Adjektivreigen aus atemberaubend, sagenumwoben, mystisch, magisch, mitreiszend. Hey, es geht um das Verbrechen an Frauen, hier bei uns, vom 16. bis ins 18. Jahrhunderte. Teilweise darüber hinaus. Ein Femizid – sie machen einen verdammten Kommerz-Scheisz daraus. Ihre Empörung hatte Wellen in der Gruppe geschlagen. Ihrer Erinnerung nach war es Lea gewesen, die spielerisch den ersten Aufschlag machte. Warum nicht dem Schmierentheater ein neues Narrativ entgegensetzen.
„Wir erinnern und gedenken: Die Handwerkertocher Agnes Bernauer, in der Donau ertränkt am 10. Oktober 1435. Sie war Opfer eines Konfliktes zwischen Vater und Sohn, Herzöge von Bayern. Anklage: Zauberei, Majestätsverbrechen, Landesschädigung. Eine nicht standesgemäsze Auszenseiterin wurde aus dem Weg geräumt.“
Wie Lucie aus jedem Ereignis immer eine bewahrenswerte Szene machte: sie coachte Annabelle und Ferdinand, wie sie damit umgingen, dasz nicht sie, sondern er nach den relevanten Facts gefragt wurde. Annabelle hatte ihren attraktiven, aber leider drogensüchtigen Neffen zum Partner erkoren, weil so die Optik stimmte. Und sie von vorneherein die Frage umschiffte, ob und warum es denn eine reine Frauenfirma sei und ob nicht und Diversität und blahblahblah.
Es war dann auch tatsächlich notwendig gewesen. Der Kurdirektor von Bad Harzburg und sogar die Tourismuschefin der Gesamtregion Harz, hier arbeitete man tatsächlich Bundesländer-übergreifend, hatte regelhaft ihren Neffen angesprochen und nicht sie, Annabelle von Bredow, obwohl sie den Kontakt hergestellt hatte und auch die Chefin der vorgeblichen und komplett erlogenen Event-Agentur war. Der Name muszte nicht länger diskutiert werden: „Missing Link“, die geblendeten Kunden schienen da nicht einmal ernsthaft gegoogelt zu haben. Ferdinand war auf seine Art ein lieber Kerl, er schien aber unbewuszt zu erwarten, dasz seine Tante wie Frauen generell für ihn Entscheidungen trafen und Verantwortung übernahmen. (Etwas anderes war das mit seiner Sucht, hier behauptete er, alles im Griff zu haben.)
Die Insel war ein hervorragender Beobachtungsposten. Mit den vorher erworbenen Jack-Wolfskin-Jacken und Hosen und einem Fernglas verfügte Annabelle über Naturbeobachtungs-Touristen-Mimikry.
Neffe Ferdinand schickte manchmal Bilder seiner botanischen Bemühungen, der er im Landsitz der Familie nachging. In einem nicht genutzten Stallgebäude hatte er eine ganze Batterie von Growkits unterschiedlicher Pilzsorten aufgestellt, die alle das begehrte Psilocybin enthielten. Einmal hatte Annabelle ihn zu den Meetings der Spaszbefreiten eingeladen und er hatte über Amanita Muscaria, den gemeinen Fliegenpilz und andere psychoaktive Substanzen berichtet, die, wie der junge Mann so altväterlich sagte, unsere Ahninnen und Ahnen eingeworfen haben, um dem tristen Alltag zu entkommen und reiche Innenwelten zu erkunden. Vieles wuchs in den Hecken – die Verbindung zu „Hexe“ stellten die teilweise wissend-gelangweilt zuhörenden Frauen dann selbst her.
„Wir erinnern und gedenken: Abelke Bleeken, ermordet in Hamburg am 18. März 1583, lebendig verbrannt. Ursprünglich eine reiche, selbstständige Bäuerin geriet sie durch eine verheerende Sturmflut in Existenznot, wurde enteignet – und sie kämpfte um Rückgabe. Als ihre Nachbarn Unglücke erlitten, wurde sie wg. Schadenszauber angeklagt. Unter der Folter gestand sie die Teufelsbuhlschaft.“
Die schlichte Inszenierung – schwarz gekleidete Frauen auf der Bühne verlasen Namen – wirkte, das vermittelten Annabelle alle Bildschirme. Und mit Verspätung wirkte sie auf das Publikum. Ein paar Hundert Feierwillige, deren Fröhlichkeit vom Strom zum Rinnsal ausdünnte. Und es sollte noch ärger werden und Ärger geben.
In einer Stunde würden sich alle Social-Media-Accounts abschalten. Dort las sie jetzt erste Symbole des Erstaunens und der angesäuerten Verwunderung.
Ja, Leute, Ihr wolltet ja zum 130. Geburtstag der Walpurgisnacht-Feier in diesem Jahr (2026) etwas Besonderes. Da müszt Ihr jetzt durch. Es war alles gestrichen und über alles hatten die Bredows die Tourismus- und Gastronomie- und Kulturvereine belogen. Kein Musical, keine Verkleidungsparty, keine Disko …. Kein, kein, kein. Nach der dreiszigstündigen Verlesung der bekannten Opfer und einer Schweigestunde für die unbekannten Frauen, einem ökumenischen Gottesdienst … sollte die Stille regieren. Mit illegalen Mitteln würden alle abschlieszbaren Vergnügungsorte verschlossen werden und die Naturräume blockiert.
Die Souvenir-Shops, von denen es einige Hundert in der Region gab mit krummnasigen, warzengesichtigen alten Frauengestalten, der Zusammenhang zwischen Juden- und Frauenhasz war hier, ebenso wie bei dem „Hexensabbath“ offensichtlich, diese Shops bekamen keinen Nachschub. Die Kundschaft blieb ohnehin aus.
„Wir erinnern und gedenken: Sidonia von Borcke, mit dem Schwert hingerichtet 1620 in Stettin, kritisch, selbstbewuszt, um ihre Rechte betrogen. Anklage: Wahrsagerei und Sex mit ihrer Katze.“
Auch die pommersche Adlige hatte unter der Tortur alles zugegeben und später widerrufen. Die „Hexentanzplätze“ auf denen die Phantasien der Verfolger herumsprangen waren meist abgelegene Orte. Selten kam hier der spätere Touri-Hot-Spot Brocken vor und auch die Nacht auf den 1. Mai als Hexen-Hochamt findet sich selten. Auch bei den unter der Folter erpreszten Aussagen. Berit hatte hier recherchiert.
Eine Vermutung lautete: bei der Vorstellung eines kollektiven Hexenfluges zum Brocken oder an andere Orte handele es sich um die Umkehrung, um die Travestie der Seelenwanderung. Nicht von Engeln werden die Toten ins Jenseits begleitet, sondern die Teufel nebst Fegefeuerchen übernehmen die Rolle. Die sündhaften Frauen bedurften eines Führers, das schrieb die patriarchale Logik vor. Aber gab es überhaupt nie eigene, neue, originale Vorstellungen?
Annabelle und die anderen hatte es amüsiert, dasz niemals eine „Hexe“ „auf frischer Tat“ ertappt worden sei – bei ihrem Flug oder Ritt zum „Hexensabbath“.
Die Hexen-Requisiten: das Pentagramm, die spitze Mütze, die Katze, der Besen – und die Häszlichkeit. Sie alle waren zu Souvenirs geworden. Die Erfindung des Besens schien gut erforscht: als wohl erster drückte der Franzose Martin Le Francs, Dichter und Kleriker um 1440 den Frauen einen Besen als Flugmittel in die Hand. In einer Handschrift seines Hauptwerkes findet sich der erste Beleg dieser Verbindung – jedoch reiten nicht sog. Hexen, sondern Waldenserinnen, also Ketzerinnen.
In ihrem Projekt kam der Besen so wenig wie möglich vor, nur soweit den Marketing-Affen Zucker gegeben werden muszte.
Die ZuschauerInnen-Reihen hatten sich bereits gelichtet. Die Sprecherinnen schienen die leichte Unruhe zu genieszen, sie sprachen noch eindrücklicher.
„Wir gedenken und erinnern: Kunigunde Sterzl, am 18. Juli 1620 in Eichstätt öffentlich enthauptet. Sie war Opfer von 17 Denunziationen. Sie wurde 29 Tage verhört. Man hatte sie für alle Krankheiten von Mensch und Tier verantwortlich gemacht.“
Annabelle konnte sehen, dasz in Thale und in Schierke nahezu gleichzeitig zwei dicke Männer in Teufelsverkleidung aufstanden und mit zotig-kotigen Worten ihre Enttäuschung, sie sprachen von Täuschung kundtaten.
Mehrere als „Hexen“ bunt gewandete Frauen schlossen sich an. Spannend war jetzt, ob es Gegenstimmen geben würde oder ob schon jetzt alles kippte.
Die Spaszbefreiten waren aus dem einzigen Grunde an den riesigen Auftrag eines umfassenden Relaunches der Festivitäten gekommen, weil die Zahlen schlechter geworden waren. Übernachtungszahlen, Umsätze der Gastronomie und auch die Verkaufszahlen der vorgeblich regionalen Produkte, das waren vor allem hochprozentige Getränke, sie alle schwächelten.
Das 130. Jubiläum des Volksfestes, von dem frech behauptet wurde, es ginge auf uralte, heidnische Bräuche zurück, die offenbar im ehemals finsteren, jetzt dank Borkenkäfer gelichteten Harz überdauert hätten.
Im Zeichen des Kommerzes gelangen immer die kühnsten Konnexe, Widersprüchlichstes, eigentlich Unvereinbares konnte in einer Formel gewinn-bringend addiert werden. Darüber hatten die Spaszbefreiten diskutiert anläszlich der Namensgeberin des groszen Hexens-Fun-Events. Die heilige Walburga stand eben niemals unter Zauber-Verdacht. Es machte den Organisatoren nichts aus, wenn sie von dem Feiervolk unter die „Hexen“ subsumiert wurde.
Walburga war eine angelsächsische Benektinerin, Äbtissin aus vielleicht königlicher, sicher aber hochedler Familie. Geboren um 710 erhält sie schon als Mädchen eine Klostererziehung, die sie auf ihren späteren Beruf als Missionarin vorbereiten soll. Und tatsächlich wird sie das, sie überquert bei rauer See den Ärmelkanal, landet in Antwerpen an. Nur dank ihrer Gebete – sie verbrachte die Überfahrt kniend und betend an Deck – gelang die Reise. Allerlei Wunder vollbrachte sie. 870, hundert Jahre nach ihrem Tod vermutlich in Eichstätt, dort sind ihre Gebeine, wurde sie vom Papst heilig gesprochen. Ihre Zuständigkeit erstreckt sich auf die Rettung auf See, die Hilfe gegen Piraten und allgemein ist sie Schutzheilige gegen Krankheiten und Seuchen, Tollwut, Hungersnot und Missernte sowie Patronin der Kranken und der Wöchnerinnen.
Oh Heilige Walburga, hilf! – das reüssierte zum running Gag der Spaszbefreiten.
Annabelle fragte sich, ob es auch eine Schutzheilige gegen Drogensucht gab oder Walburgas Zuständigkeitsbereich in diese Richtung erweitert worden war?
Das Publikum schien sich zu spalten. Die eine Fraktion wollte „erstmal abwarten“, „sich einlassen“, die andere forderte sehr grob ein sofortiges Ende. Viele verlieszen die Säle und Outdoor-Festplätze. Auf den Landstraszen der Region ein richtungsloser bunter Lindwurm, kleine Klumpen bildeten sich an den Imbisz- und Alkohol-Verkaufsständen, die sich bald wieder auflösen muszten. Es gab ja nichts.
Annabelle freute sich jetzt schon auf die Filmdokumentation, die Irene machen würde.
Die Sprecherinnen liesz der wachsende Tumult unbeeindruckt.
„Wir gedenken und erinnern: Rebekka Lemp, ermordet am 9. September 1590. Rebekka kam aus einer angesehenen Nördlinger Familie. Am 8. November des Jahres 1589 war in Nördlingen die erste Frau ermordet worden, sie war vermutlich geistig nicht gesund. Und die nannte, es hiesz „besagen“, also sie besagte mehrere Frauen aus der städtischen Oberschicht, zu denen auch Rebekka gehörte. Ihr Mann versuchte vergeblich, sie zu retten. Unter der Folter gab sie Hexenflug und Schadenszauber zu. Sie bat um Gift. Die erpreszten Falschaussagen belasteten sie schwer. Zusammen mit anderen Frauen wurde Rebekka Lemp auf dem Marktplatz verbrannt.“
Die meisten Femizide ereigneten sich in protestantischen Gebieten, in Gebieten, die gerade den Glaubenswechsel durchmachen muszten. Auch das ein Krisenindiz, in den Hexenverfolgungs-Herleitungen war immer von Krisen die Rede, gern in Verbindung mit „multipel“. Im Kern doch eine Glaubenskrise, eine erste Erschütterung des Weltbildes. Gott der Allmächtige liesz soviel Böses, Seuchen, Hunger und Hagel zu.
Wir gedenken und erinnern: Anna Maria Schwegelin starb 1781 im Gefängnis in Kempten. Sie stammte aus einer armen Familie im Allgäu und war Magd. Sie wechselte aus eigenem Antrieb vom katholischen zum lutherischen Bekenntnis. Bei der Schwegelin verfestigte sich die Vorstellung, es sei der Teufel gewesen, der sie zum Glaubenswechsel genötigt habe. Es reute sie. Da sie wegen einer Beinverletzung nicht mehr arbeiten konnte, lebte sie in einem Arbeitshaus. Eine Mitinsassin zeigte sie an. Schwegelin gestand die Teufelsbuhlschaft ohne Folter, bestritt jedoch jeden Schadenszauber. Ihre Verurteilung erfolgte gemäsz der Constitutio Criminalis Carolina. Sie starb aber im Gefängnis und erhielt die Sterbesakramente.“
Mit der nächsten Fähre würde Berit, Annabelles augenblickliche Favoritin ankommen. Seit zehn Jahren lebte Annabelle unfallfrei polyamourös, Berit hatte das Prinzip glücklicherweise verstanden. Sie gehörte nicht zum inneren Kern der Gruppe, war aber engagiert, informiert und garantiert verschwiegen, was AKW anging. Als Berit mit Ferdinand eines Abends verschwand, muszte sie die Geliebte mitten in der Nacht abholen, an einem Lost Place, von dem Ferdinand die Koordinaten geschickt hatte. Berit hatte einen Höllentrip durchgemacht, ihr Körper hatte auf die angeblich komplett harmlose Kräuter- und Beerenmischung extrem reagiert. Ferdinand meinte, sie sei ein Medium, Annabelle hielt sie eher für durchgeknallt, jetzt aber extrem hilfsbedürftig. Immer wieder lief sie davon und lief durch einen eiskalten Bach, der Meinung die heilige Inquisition sei hinter ihr her. Die Aufzeichnungen liefen weiter, sie meldete sich kurz im Chat ab, demnächst würde ihre Fake-Firma komplett erlöschen. Annabell ging mit betontem Schlenderschritt zum kleinen Inselhafen und postierte sich mit Sonnenbrille und Baseballcap am Anleger. Berit verliesz als letzte die Fähre, suchenden Schrittes und mit starren Blick, so grün im Gesicht wie die billigen Hexenmaske der Harz-Souvenirshops.
Als Berits Gleichgewichtsorgan sich des festen Bodens auf dem Inselsockel vergewissert hatte, berichtete sie von ihrer letzten Lektüre betreffend Traditions-erfindung Walpurgisnacht. Ganz zu Anfang der Walburga-Aktion hatten die Spaszbefreiten den Mythos befreit, d.h. kontextualisiert. 130 Jahre waren nun wirklich nicht viel. Es stellte sich heraus, dasz es mal wieder das Geschichts-besoffene 19. Jahrhundert war, dasz dieses Ereignis in die Kalender geschrieben hatte. Und, klar, der Heilige Goethe hatte das Fundament gelegt: Faust I, Szene 21, Faust und Mephisto auf dem Weg zu Brocken, es ist Walpurgisnacht. Und eine von Mephisto geschickte Hexe soll Faust verführen. Zweifellos ein Werk immenser Schöpfungshöhe, immerhin das Kriterium des Urheberrechtes, das geschützte Werke vor denen, die blosz kompiliert, collagiert oder sonstwie plagiiert sind. Oder schlicht zu schlicht sind.
Der Vielleser und Vielschreiber bediente sich, freilich in Prä-Urheberrechts-Zeiten, eines kruden Werkes von Johann Prätorius aus dem Jahr 1669 mit dem echt barocken Titel:
„Blockes=Berges Verrichtung / Oder Ausführlicher Geographischer Bericht / von den hohen trefflich alt=und berühmten Blockes=Berge: ingleichen von der Hexenfahrt / und Zauber-Sabbathe / so auff solchen Berge die Unholden aus gantz Teutschland/ Jährlich den 1. Maij in Sanct-Walpurgis Nachte anstellen sollen.“
Prätorius Dämonologie ist detailreich, schaurig und reiszerisch. Er klaubt zusammen, was er nur finden und erfinden kann, ein Blender war er ohnehin, der seinen Namen Hans Schultze in Prätorius upgegradet hatte.
Bezüge auf den Hexenhammer und viele lateinische Zitate sorgen für Renommee und Verkaufszahlen. Mag sein, er wäre ohne Goethes Lektüre zu recht vergessen.
Einwand: auch die Grimms fuhren ziemlich ab auf Schultze alias Prätorius.
Der böse Heinrich Heine schrieb 1837 in „Elementargeister“, es sei „ein Wust von Unsinn, aufgegabeltem Aberglauben, maulhängkolischen und affenteuerlichen Historien und gelehrten Zitaten, Kraut und Rüben.“ Also ein Schätzkästlein der Schauer- und Hochliteratur.
Die beiden Frauen erfreuten sich an dem voll-angeberischen und halb-gebildeten Schreiberling und verglichen ihn mit gegenwärtigen Medien-Stars.
Sie waren an den Bildschirmen, als die Event-Firma ihre Scheinexistenz offiziell aushauchte und erlebten den virtuellen Sturm, der bereits die Harzregion verlassen hatte.
Im Rahmen der übliche Suche nach den Verantwortlichen stammelten Landräte, höhere Polizeibeamten und Tourismusdirektoren das Übliche in die Kameras. Klar: die Schuldigen muszten ermittelt werden, noch ermittele man in alle Richtungen, der materielle Schaden sei noch nicht absehbar. Aber zum Glück gäbe es ja keinen Personenschaden.
Zur gleichen Zeit erhob sich ein mächtiger Sturm um die kleine Insel, er zerrte an den tapferen Bäumchen, trieb die Touristen erst an den Strand und dann in ihre Ferienwohnungen, heulte um diese herum und türmte die See drei Stockwerke hoch. Der Fährbetrieb ruhte die nächsten Tage. Annabelle und Berit merkten erst jetzt, wie sehr auch sie so etwas wie Ferien brauchten.
Ende
Helgoland, den 19. März 2025
Wiebke Johannsen